März 2019 - Ausgabe 207
Strassen, Häuser, Höfe
Die Häuser der Skalitzer Straße (1): Die Nummer 20 von Werner von Westhafen |
Die Skalitzer Straße war eine lebendige jüdische Straße. Die Menschen, die Anfang des 20. Jahrhunderts hierher gezogen waren, begannen, sich heimisch und sicher zu fühlen. Das änderte sich, als ein Gesetz in Kraft trat, das arischen Hausbesitzern das Vermieten an Juden untersagte: »Juden sollen nur noch in Judenhäusern untergebracht werden.« Da wurde »die Skalitzer« zur »Straße mit den Judenhäusern«. Immer mehr Flüchtlinge, durch den sogenannten »Judenbann« aus den »Haupt- und Prachtstraßen der Reichshauptstadt« vertrieben, zogen zu jüdischen Verwandten und Hausbesitzern in Kreuzberg zur Untermiete ein. Man rückte zusammen, es wurde eng, wie viele Juden damals in der Straße lebten, ist schwer zu sagen. Viele waren längst auf der Flucht, illegal und nirgends mehr gemeldet. »Man könnte«, schreibt die Historikerin Dietlinde Peters, »vor fast jedem zweiten Haus stehenbleiben und – mit den Unterlagen der Täter in der Hand – nachsehen, wer hier in den vierziger Jahren gewohnt hat und wann er in den Tod geschickt worden ist.« Dennoch sei es nur schwer zu begreifen, was das tatsächlich bedeutete: »die Skalitzer Straße judenfrei zu machen, ungefähr 150 Häuser! Wer da alles fehlte, als im Mai 1944 der Letzte der jüdischen Bewohner der Straße nach Theresienstadt gebracht wurde!« Eines dieser »Judenhäuser« war die Nummer 20, das Haus von Frau Moses. Es hat den Krieg nicht überlebt. Sie war die Witwe des Likörfabrikanten Moritz Moses, der mit Frau und Kindern von Posen nach Berlin zog. Die Geschäfte liefen gut, drei Jahre nach der Ankunft in Berlin konnte der erfolgreiche Spirituosenhändler sogar das Haus kaufen, in dem er wohnte. Es war eines der ältesten, 1880 in der Nähe des Kottbusser Tors erbaut und in günstiger Position. Im Erdgeschoss ließ Moritz Moses einen Tabakladen für den großen Sohn einrichten – sein Sorgenkind, denn Dagobert saß seit seiner Kindheit im Rollstuhl. Hinter der Theke unterschied ihn nichts mehr von anderen Tabakhändlern, vor dem Laden gab es Schaukästen und Zigarren-Automaten, drinnen brannte die ewige Gasflamme des Zigarrenanzünders. Doch schon drei Jahre später stirbt Moritz Moses, die Witwe hat es nicht leicht mit dem Haus und ihren Mietern. Das alte Mauerwerk ist feucht, der Schwamm nagt an den Balken, die Mieter beschweren sich wegen der schlecht ziehenden Öfen »dieser jüdischen Vermieter«. Andere beklagen sich über Weisselberger & Krebs, die im Keller einen Kartoffelschälbetrieb haben, und dessen »Inhaber Ausländer sind«. Es begann, ungemütlich zu werden in den Dreißigerjahren, auch in der Skalitzer Straße. Es gab Schlägereien zwischen Nazis und Kommunisten, die ihre Kneipen hier hatten, und als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, war die Skalitzer Straße plötzlich voller Stiefelträger. Vor jedem Laden stand einer und passte auf, dass niemand einkaufte. Am 10. November 1938 berichtete der Berliner Lokalanzeiger von eingeschlagenen Schaufenstern und Zerstörungen jüdischer Geschäfte, zu Plünderungen aber sei es nicht gekommen. Den Zigarrenladen in der Nummer 20 erwähnte die Zeitung nicht. Das Warenlager war ausgeräumt, die ewige Flamme vor der Theke für immer erloschen. Dagobert Moses hat den Laden nie wieder geöffnet. Seiner Schwester Hildegard gelang ein halbes Jahr später die Flucht aus der Straße nach Südamerika, andere flüchteten jetzt genau hierher. Es waren Verwandte, manchmal nur Bekannte, und manchmal waren es vollkommen Fremde. Sie kamen aus der Stadt oder dem Umland, manche auch von weit her, so wie die junge Frau aus Ostfriesland mit Sally, ihrem zwölfjährigen Sohn. Ihr Mann hatte mit der Tochter nach England ausreisen können, sie hatten gehofft, nachkommen zu dürfen, stattdessen zogen die beiden nun in die Skalitzer Straße Nr. 20, zu ihrem Bruder Fedor, dessen Frau Rosa und der Mutter Henriette. Sie wohnten zu fünft in einem Zimmer mit Küche und Kammer, lauter Verzweifelte ohne Ziel und Zukunft, die Stimmung muss bedrückt gewesen sein. Sie spürten, sie waren Gefangene. Spätestens seit dem 1. November 1941, als sie die ersten Mieter aus der Skalitzer Straße holten. Als der erste Zug mit etwa 1000 Juden vom Görlitzer Bahnhof in Richtung Lodz aufbrach. Es war der erste Todeszug, der Berlin verließ, und Else Jacks, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn aus der Skalitzer Straße 20 fuhren mit. Im Laufe des Jahres 1942 verschwanden weitere 9 Personen aus dem Haus, allein am 19. Februar 1943 waren 18 Menschen. Unter ihnen auch die Bewohner des Vorderhauses, sogar die Hauswirtin Siddy Moses mit ihrem Sohn Dagobert wurde abgeführt. Bis zum März holten die Männer mit ihren Stiefeln noch einmal acht Bewohner aus den Wohnungen des Judenhauses mit der Nummer 20, auch Sally und seine Mutter hatten es nicht mehr nach England geschafft. Als der letzte Zug in Richtung Auschwitz den Bahnhof verlässt, muss es menschenleer gewesen sein in dem Haus. Vielleicht wohnte Frau Kowalski, die sich wegen der Öfen »über die Nachlässigkeit der jüdischen Hauswirte« beim Amt beklagt hatte, jetzt noch hier. Das Haus ist heute ebenso spurlos verschwunden wie einst seine Bewohner. Noch immer klafft hier eine Lücke, hinter einer Hecke eine schmucklose Reihe von Garagen und ein Parkplatz, dahinter schmucklose Nachkriegsbauten. Eine Hausnummer fehlt. Und auch die Stolpersteine fehlen. 31 müssten es sein! Vor keinem anderen Haus würden so viele Steine liegen. Es ist ein trostloser Ort. • Literaturnachweis: Dr. Dietlinde Peters in »Juden in Kreuzberg«, Hrsg. Berliner Geschichtswerkstatt e.V 1991: »Juden in der Skalitzer Straße«, Seite 187 ff. Das Ende der Skalitzer Straße am Schlesischen Tor, um 1900 Foto: Postkarte
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