Februar 2019 - Ausgabe 206
Strassen, Häuser, Höfe
Gneisenaustraße 22 von Sybille Matuschek |
Das Haus mit dem gläsernen Atelier Vor Sotheby´s sah die Realität romantischer aus. Das stattliche Eckhaus dürfte aus den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts stammen, als die Straße, die von der Hasenheide zur Belle Alliance führte, noch Vor der Hasenheide und den Weinbergen hieß, und am Stadtrand lag. Aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag das Grundstück nicht mehr in einer bedeutungslosen Neubaugegend: Wo sich die Zossener- und die Gneisenaustraße trafen, kreuzten inzwischen Bus- und Straßenbahnlinien. Seit 1924 machte sogar die U7 Station in der Gneisenaustraße. Eine Aufnahme aus jenen Jahren zeigt ein belebtes Viertel, in dem drei Polizisten Wache schieben, fliegende Händler ihre Leiterwagen geparkt haben. Im frisch verputzten Eckhaus an der Zossener Straße sieht man ein Damenhutgeschäft mit Spitzengardinen in den Fenstern, daneben die Feinbäckerei Weiss und der Zigarrenhändler Max Jüterbock, bei dem die Herren sich samstags die Zigarren für die Trabrennbahn und auch gleich die Wettscheine dazu kaufen konnten. Um die Ecke, in der Gneisenaustraße, befanden sich ein Blumenladen und ein Papierwarengeschäft. 1926 bekam das Haus mit der Nummer 22 zum ersten Mal einen neuen Anstrich, außerdem kam ein fünfter Stock dazu. Der Fotograf aus der vierten Etage richtete sich auf dem Dach ein gläsernes Atelier ein und verband es durch eine Treppe mit dem Kontor und dem Büro im 4. Stock. In den Räumen zur Zossener Straße hin befanden sich die Wohnräume des Fotografen. Der Hauseingang wurde mit gläsernen Schaukästen ausgestattet, in denen die Arbeiten des Fotografen gezeigt wurden, und über der Tür standen in großen Lettern seine Initialen: MM, Max Missmann, Gegründet 1903. Das »gläserne Atelier in luftiger Höh´« war in den Zwanzigerjahren keine Seltenheit. Überall in der Stadt hatten sich Maler und Fotografen auf der Suche nach Licht über den Dächern Berlins Arbeitsplätze eingerichtet, der Wiener Beobachter schrieb schon 1893: »In jedem Neubau, in jeder belebten Straße wird das Dachgeschoss als photographisches Atelier angelegt.« Heute aber ist das Glashaus auf dem Dach der Nummer 22 eine Rarität, denn die meisten der gläsernen Aufbauten haben den Krieg nicht überstanden. Auch das Eckhaus mit der Nummer 22 wurde von den Bomben nicht verschont. Von 80 Quadratmetern Glas war keine Scheibe ganz geblieben, klagte Missmann im Januar 1944, das Wasser lief in die darunterliegende Wohnung und von dort bis in die dritte Etage. Literatur-, bzw. Abbildungsnachweis: Wolfgang Gottschalk (Hrsg.): Alt-Berlin. Historische Fotografien von Max Missmann. Kiepenheuer, Leipzig & Weimar 1987 |