Februar 2019 - Ausgabe 206
Herr D.
Der Herr D. wird sentimental von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. lief die Straße entlang, noch immer die Bilder der chinesischen Schüler aus der Reportage im Kopf: Tausende im gleichen Kostüm, akkurat aufgereiht im ummauerten Schulhof, auf den Gesichtern eine Entschlossenheit, die er sonst nur von Militäraufmärschen kannte. Da sah er vor dem Altbau an der Ecke eine Menschentraube. Der Herr D. dachte an ein Unglück, dann erkannte er, dass es sich um eine der üblichen Wohnungsbesichtigungen handelte. Es waren etwa fünfzig Wohnungssuchende, lauter gut gekleidete Mittelständler mit teuren Frisuren, die irgendwie alle gleich aussahen. Wie die chinesischen Kinder in der Zeitschrift. Als er an ihnen vorüberging, hörte er einen schönen Satz: »Im Osten haben wir um Bananen angestanden, jetzt stehen wir um Wohnungen an. Aber ein Leben ohne Bananen ist möglich. Das ist der Unterschied!« Auch der Herr D. erinnerte sich. »Klar, komm zu uns nach Kreuzberg!«, hatte Karl gesagt, als der Herr D. von der Wohnung am Viktoriapark erzählte. Die Familie, die dort wohnte, wollte an den Stadtrand ziehen und konnte einen Nachmieter stellen. Das war damals üblich. Heute würden sie 5000 Euro Ablöse für den Blick über Berlin verlangen. Der Herr D. musste ihnen nur für ein paar Hunderter die riesige Schrankwand abkaufen, die nicht durch die Wohnungstür passte. »Du meinst wirklich, ich soll in dieses Chaotenviertel ziehen?« Der Herr D. sah Karl misstrauisch an. »Chaotenviertel? Es gibt keine tolerantere Stadt als Berlin, und in Berlin kein toleranteres Viertel als Kreuzberg. Hier wohnen Professoren neben Arbeitern und Studenten, am Tresen stehen Zahnärzte neben zahnlosen Punks und trinken bis um 5. Die werden auch einen Beamten aus Bonn verkraften!« So zog der Herr D. vor 25 Jahren in Kreuzberg ein, und Karl hatte recht: In diesem Viertel war Platz für alle: Studenten, Punker, Kleinkriminelle und deren Anwälte, Büroangestellte, Bauarbeiter und Akademiker, Porschefahrer und Fahrradfahrer. Schwule und Lesben knutschten auf der Straße, Arbeitslose plauderten mit den Verkäuferinnen im Supermarkt, uralte Leute im Schlafrock erhielten im Zigarettenladen das gleiche Lächeln wie die Schulkinder mit den Schulranzen. Kreuzberg war anders als Deutschland. Aber das war einmal. Als sich die Mauer öffnete und es noch ein bisschen bunter hätte werden können in der Stadt, spazierten lauter graue Herren und blonde Damen herein. Immobilienhändler aus allen schäbigen Winkeln dieser Welt fielen über die Insel her. Und Gastronomiemogule, deren Filialnetz die halbe Erdkugel umspannte, und die überall auf der Welt das gleiche Essen auf den Tisch stellten. Und Klamottenverkäufer, die die ganze Welt in Einheitskleidung packten. Mit kleinen Schildchen, auf denen stand: Made in China. • |