Kreuzberger Chronik
Dez. 2019/Jan. 2020 - Ausgabe 215

Kanzlei Hilfreich

Hilfreich, Emmy und die Sopranistin


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von Kajo Frings

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Zwei unvergessliche Geschichten aus dem Seniorenheim

Die bettlägerige Frau Hoese, die wegen der Folgen eines Sturzes ihre Eigentumswohnung verlassen musste, lag im Seniorenheim und wollte dem jungen Kellner aus dem italienischen Restaurant, in dem sie die letzten 10 Jahre zu Mittag gegessen hatte, und der alles für sie erledigte, was sie nicht mehr erledigen konnte, die Wohnung vererben. Aber das ging natürlich nicht bei 20.000 Euro Freibetrag und 30 % Erbschaftssteuer für Nichtverwandte bei den verrückten Preisen in Berlin. Da blieb nur eins: Adoption. Die Richterin war kritisch. »Es muss ein Eltern-Kind-Verhältnis bestehen, kein Großeltern-Enkel-Verhältnis. Und außerdem: Ist denn die Dame noch geschäftsfähig?« So kam es zu einer Anhörung im Heim: Die Richterin stellte Fragen nach der Erinnerungsfähigkeit und Frau Hoese deutete auf ein Foto an der Wand, das eine junge Frau auf einer Opernbühne zeigte: «Da war ich 23 und ich sang die Arie der Tosca und kann noch jedes Wort« und dann schmetterte sie, na ja, sie sang: »Nur der Schönheit weiht‘ ich mein Leben.« Die Richterin ward ergriffen und gab dem Adoptionsantrag statt.

Und dann war da Emmy. Geboren in Böhmen, nach dem Krieg in verschiedenen Orten in Westdeutschland, zuletzt am Niederrhein in einem kleinen Einfamilienhaus. Irgendwann konnte von Treppensteigen keine Rede mehr sein. Also fiel die Familienentscheidung: Ein Pflegeheim an einem der vier Orte, wo die Kinder wohnten. Kolportiert wurde Emmys Satz: »Es ist leichter drei Söhne zu erziehen als eine Tochter«. Aber wie das so ist mit der Altenpflege, es trifft meist die Tochter, und die lebte in Berlin. So kam auch Emmy vor drei Jahren in das frisch renovierte Pflegeheim in der Fidicinstraße. Jens Hilfreich sollte den Verkauf des Hauses beurkunden und musste sich daher von ihrer Geschäftsfähigkeit überzeugen. Er stellte die klassischen Fragen: »Wissen Sie, wo Sie sich befinden?« - »In einem Altenheim« - »Was ist heute für ein Wochentag?« usw. Dann las er den Vertragseingang vor: »Der Notar hat sich von der Geschäftsfähigkeit der Erschienenen überzeugt....« - und kam nach acht Seiten zum Schluss. »So, jetzt bitte ich um Ihre Unterschriften«. Emmys Tochter meinte launig: »Ja, ist das hier nicht nett in Berlin?« Und Emmy erstarrte. Entsetzten Blickes rief sie: »Berlin? Ich bin in Berlin? Warum hat mir das keiner gesagt?« Jens Hilfreich schaute hilflos um sich, als sie immer verwirrter wirkte. Die ganze Arbeit umsonst! Da plötzlich wechselte Emmys Gesichtsausdruck und sie kicherte wie ein kleines Mädchen: »Na, Herr Notar, da hab ich Sie aber reingelegt.«

Und deshalb war Jens Hilfreich kürzlich in der Marktwirtschaft, die in den letzten Jahren zu Emmys Stammkneipe geworden war. Sie war im Alter von 97 Jahren verstorben. Verwandte und Freunde aus allen Ecken Deutschlands trafen sich, um zu gedenken. Sie erzählten über ihre Erlebnisse mit Emmy. Jens Hilfreich auch. •

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