Kreuzberger Chronik
Dez. 2019/Jan. 2020 - Ausgabe 215

Herr D.

Der Herr D., der Vater und der Sohn


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von Hans W. Korfmann

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Es war ein sonniger Sonntag, der Herr D. spazierte an der alten, von der Sonne beschienenen Friedhofsmauer entlang bis zur Ecke an der Jüterboger Straße, wo ein Schild am Zaun hing. Keine Bebauung der Friedhöfe, stand da. Und weil die Sonne gerade auf das Schild und die dahinter liegende Müllkippe schien, die die Friedhofsgärtner in wahrhafter Pietätlosigkeit zwischen den Gräbern angelegt hatten, holte der Herr D. sein Handy heraus und fotografierte das Zeugnis des Widerstandes. In diesem Moment kam ein Vater in kurzen Hosen mit seinem Sohn die Straße entlang. Als er den Herrn D. und das Schild sah, rief er seinem Sohn zu: »Siehst du, da möchten Menschen sich ein Haus bauen, damit sie nicht auf der Straße schlafen müssen, und diese alten, meckernden Kreuzberger wollen ihnen das verbieten!«

Der Herr D. überlegte, ob er dem spießigen Familienvater in seinen weißen Sportsocken nicht ganz einfach »Arschloch« hinterherrufen sollte. Aber er vermutete, dass die pädagogische Wirkung auf den späteren Staatsbürger kontraproduktiv sein könnte: Der kleine Junge würde zu seinem geliebten Vater halten, wenn jemand ihn so einfach Arschloch nannte.

Aber als er die beiden etwas später im Conni Island bei Rhabarberkuchen und Kakao sitzen sah, da nahm er sich einen der letzten freien Stühle, setzte sich zu Vater und Sohn an den Tisch und fragte lächelnd und überaus freundlich:

»Darf ich mich kurz setzen?« Der Vater sah irritiert auf, wollte aber nicht unhöflich sein. »Der Kuchen und der Kakao dieser beiden Herrschaften gehen auf mich!«, rief der Herr D. der netten Bedienung zu. Dann wandte er sich an den jungen Mann. »Sag mal, hat dir dein Vater denn vorhin auch gesagt, warum da einige Leute etwas gegen die Häuser haben?« – »Die denken nur an sich!«, antwortete der Sohn. - »Würden Sie die Erziehung meines Sohnes bitte mir überlassen!« mischte sich der Vater ein.

»Natürlich!«, sagte der Herr D., »Aber es geht ja auch um Sie! Also, ich erkläre Ihnen das mal kurz. Ich bin jetzt über sechzig Jahre alt und denke überhaupt nicht an mich, wenn ich etwas dagegen habe, dass ein Drittel aller Berliner Friedhofsflächen bebaut werden soll. Ich beiße eh bald ins Gras, aber Ihr netter Sohn hier, der wird in zwanzig Jahren vielleicht dort stehen und sagen: Als ich noch klein war, da war hier alles grün. Da standen hier riesige Bäume. Nicht ich, Ihr Sohn wird darunter leiden, wenn es in seiner Stadt eines Tages nur noch Betonwände gibt. Und deshalb, nur deshalb, bin ich gegen Bebauung.«

Dann winkte er der netten Bedienung in ihrem frühlingshaften Kleid zu, bezahlte zwei Kakao und zwei Kuchen, verbeugte sich ein wenig vor dem Jungen und ging. •


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