April 2019 - Ausgabe 208
Strassen, Häuser, Höfe
Die Häuser der Skalitzer Straße (2): Die Nummer 32 von Werner von Westhafen |
Es liegen viele dieser kleinen, zehn mal zehn Zentimeter großen Messingsteine im Berliner Straßenpflaster. Es sind kleine Gedenksteine, sie erinnern daran, dass auch hier, im zweiten oder im dritten Stock vielleicht, eines Tages unfreundliche Männer in Stiefeln vor der Tür standen und klopften. Sie forderten die Bewohner auf, ihre Sachen zu packen. Noch am selben Tag verschwanden sie meistens für immer – die Nachbarn hörten nie wieder von ihnen. Schon die nackten Zahlen erschüttern, 591 Stolpersteine liegen allein in Kreuzberg, Steine für Ida Lustig, Irene Sommerfeld, Heinrich Feilchenfeld oder Doris Glückstein. Namen, die ein besseres Leben versprachen als das unter dem Terrorregime der Nazis. Die Skalitzer Straße trägt viele solcher Steine in ihrem Pflaster. Die Skalitzer Straße war eines der Zentren jüdischen Lebens in der Stadt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die jüdischen Einwanderer auf ihrem Weg nach Amerika in der Nähe des Görlitzer Bahnhofes hängengeblieben und hatten in den günstigen und lichtscheuen Souterrains der großen Straße ihre Geschäfte eingerichtet. Sie packten Obst und Gemüse in die Kellerräume, richteten Möbelgeschäfte, Schneidereien und unzählige Kleiderhandlungen ein, die das Viertel zum Berliner Altkleiderviertel werden ließen. Die »Schuhkeller in der Skalitzer« wurden sprichwörtlich, es gab sie in der Nummer 114, 117, 119, 132 und 143. Schon bald fühlten sich die Neuankömmlinge heimisch in der Straße, hatten in der Nummer 28 eine kleine Privatsynagoge, zogen hin und her, ein paar Meter weiter die Straße hinauf oder hinab. Amerika war längst auf der Strecke geblieben und in weite Ferne gerückt. Erst als die Nazis in die Straße kamen, rückte das Land jenseits des Atlantiks wieder ins Visier. Doch wer jetzt noch ausreisen wollte, brauchte Geld. Schlepperbanden machten damals wie heute ihr Geschäft mit den Ärmsten der Armen. Auch Margot Bendheim aus der Skalitzer Straße 32 bemühte sich vergeblich. »Wir haben versucht, auszuwandern, aber es war nie möglich. Eine Weile sagte man, ein südamerikanisches Land sei offen, man brauche dies und das - ein paar Tage später war es ein anderes Land.« Zuletzt sprach man von Shanghai. »Danach war nichts mehr.« Jetzt liegen vier kleine Kupfersteine vor dem Haus mit der Nummer 32. Für Rachela Meisner und für Auguste, Ralph und Margot Bendheim, eine Mutter mit zwei Kindern. Eine Witwe: Der Vater, ein Widerstandskämpfer, wurde bereits 1942 nach Auschwitz gebracht. Ralph war gerade 18 Jahre alt, als sie kamen. Es ist der 29. Januar 1943. Das Foto zeigt einen jungen Mann mit Jackett und Brille, der bei Siemens arbeitet und etwas skeptisch in die Zukunft zu blicken scheint. Seine Mutter Auguste war nicht zuhause, als sie klopften, aber Frau Meisner war da, bei der sie seit zwei Jahren zur Untermiete wohnten. Als die Mutter nach Hause kommt, ist die Wohnung leer. Nachbarn erzählen, dass die Gestapo ihren Jungen mitgenommen hat. Wie hatte das passieren können? Sie waren so vorsichtig gewesen, hatten ihre Flucht so sorgfältig geplant! Die Tochter war gerade beim Arzt, um ein Attest zu besorgen, damit man ihnen nicht gleich auf die Spur kam, wenn sie morgen nicht zur Zwangsarbeit erschien. Noch in dieser Nacht hatten sie die Stadt verlassen wollen! Wer hatte sie verraten? Aber die Mutter überlegt nicht lange, packt einige wichtige Dinge zusammen und geht zur Polizeistation. Unterwegs gibt sie bei Bekannten eine Handtasche »mit ein paar Sachen« für die Tochter ab und hinterlässt eine letzte Nachricht: »Versuche, Dein Leben zu machen!« Dann geht sie aufrecht ihrem ungewissen Schicksal entgegen. Zur selben Zeit ist die Tochter auf dem Heimweg vom Arzt, vor ihr in der Skalitzer Straße läuft ein Mann, und plötzlich hat sie »so ein komisches Gefühl« und sagt sich: »Wenn der in unser Haus geht, dann sei mal vorsichtig. Ich trug natürlich meinen Stern, aber so, dass die Handtasche ihn verdecken konnte, und der Mann ging tatsächlich in unser Haus. Ich bin ihm langsam nachgegangen, und dann stand er vor unserer Wohnungstür und wartete auf irgendwas. Also ging ich an ihm vorbei zu den Nachbarn eine Etage höher. Sie erzählten mir, daß mein Bruder verhaftet worden sei. Meine Mutter stellte sich dann selbst und ging mit meinem Bruder. (...) Später kam dann noch eine Postkarte an eine Tante - die hat meine Mutter anscheinend aus dem Zug geworfen. Sie schrieb: Der Transport geht nach Auschwitz. Versucht, uns zu helfen. Das war das letzte, das ich gehört habe.« Margot Bendheim kehrt nie in die Skalitzer Straße zurück, sie hat Angst. Sie färbt ihre Haare und lässt die Nase operieren, bleibt nirgends länger als ein paar Tage, ist auf der Flucht. »Es war schrecklich.« Als sie sich einer Familie anschließen will, die aufs Land zieht, taucht - wieder am Tag der Abreise, man ist gerade dabei, den Möbelwagen zu beladen - die Gestapo auf und verhaftet den Familienvater. »Ich habe nie wieder von ihnen gehört.« Ein Jahr lang schlief sie in Autos, Holzhütten, wohnte bei zwei Schwestern im Berliner Westen. Eines Tages stand wieder die Gestapo vor der Tür. Sie suchten einen anderen, aber dann wollten sie wissen, wer sie sei und begannen, sie auszufragen. Plötzlich wusste sie nicht einmal mehr, wann sie geboren war. »Das war wie weg!« Die Beamten lachten, sie solle doch nicht so aufgeregt sein. Aber kaum waren sie fort, verschwand Margot durch die Hintertür. Die Schwestern sah sie nie wieder. Im April 1944 wird sie auf der Straße nach den Papieren gefragt. Margot hat keine Papiere. Sie kommt ins KZ nach Theresienstadt. Auf den Steinen vor dem Haus Nr. 32 steht: Rachela Meisner, deportiert 1943, in Auschwitz ermordet; Auguste Bendheim, deportiert 1943, in Auschwitz ermordert, Ralph Bendheim, deportiert 1943, in Auschwitz ermordet. Und zuletzt Margot Bendheim, deportiert 1944, überlebt. • Literaturnachweis: Dr. Dietlinde Peters und Margot Friedländer in »Juden in Kreuzberg«, Hrsg. Berliner Geschichtswerkstatt e.V 1991: S 187 f.f. und 227 f.f. |