Kreuzberger Chronik
April 2019 - Ausgabe 208

Kreuzberger
Cordula Gerburg

Man muss meinen, was man sagt!


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
Ihr Mann heißt Ingo. Sie sagt Bingo, denn Ingo war der Hauptgewinn ihres Lebens. Vierzig Jahre ist es her, als alle Stühle besetzt waren in diesem Tonstudio in Darmstadt und sie sich einfach auf seinen Schoß setzte – was 1974 nichts Ungewöhnliches war für eine junge Frau wie sie. »Aber da durchfuhr es mich!«

Ihr Sohn heißt William, weil Willi ihnen zu profan war, das Kind aber zu Ehren von Ingos Vater dessen Namen erhalten sollte. Und weil Ingo gerade so viel Shakespeare übersetzte, nannten sie ihn William. William stand nur einmal mit seiner Mutter auf der Bühne: 1993 übernahm er in Richard III. die Rolle des Sir William Plantagenet. Seine Mutter verkörperte Königin Elizabeth.

William wiederum nannte seine Tochter Polly, zu Ehren der Mutter. Sie kann sich noch gut erinnern, wie ihr kleiner Sohn eines Tages nach der Vorstellung zu ihr kam und flüsterte: »Du warst die Beste.« Das war, als seine Mutter die Polly in der Dreigroschenoper spielte.

Ihren Hund nannte sie Dr. Lehmann, »weil der immer so doof aussah!«, und sich selbst nannte sie Cordula Gerburg. Dieser Name stand auch in den Programmen der Theater und in den Feuilletons. In der Geburtsurkunde vom Februar 1945 aber stand: Gerburg Cordula Minke.

Ihren Vater, einen Nazioffizier, hat sie nie kennengelernt. Die ersten Jahre nach dem Krieg verbrachten Mutter und Tochter auf einem Bauernhof in der Rhön, dann fand die Mutter eine Stelle in einem Krankenhaus in Lübeck. Sie wohnten in einer winzigen Wohnung mit Pappwänden, es roch nach Chlor und Medizin. Gerburg Cordula besuchte das Gymnasium, das Abitur bestand sie mit einer Eins in Französisch und einer Fünf in Englisch. »Wie geht das denn?«, fragte der Direktor die Schülerin, und Gerburg sagte: »Fragen sie doch bitte mal den Englischlehrer!« Schon während der Schulzeit wollte Sie auf die Bühne, träumte davon, in Ballettschuhen auf Zehenspitzen zu stehen. Erst als sie sah, wie die Tänzerinnen in den Spagat sprangen, gab sie diesen Traum auf und beschloss, Schauspielerin zu werden.

»Aber zuerst lernst du noch etwas Ordentliches!«, sagte die Mutter, und die Tochter gehorchte, absolvierte mit ihrer Eins in Französisch eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin, um stante pede zur Schauspielschule in Hannover zu wechseln, wo man schnell der Meinung war: »Die kann ja schon alles.«

1995: Sekretärinnen
Foto: Peter Festersen










Mit 21 hatte sie ihr erstes Engagement in Luzern und war »die einzige Hetero-Schnecke im ganzen Haus, alle anderen waren schwul und lesbisch!« Es war das Jahr 1966, homosexuelle Künstler flüchteten scharenweise in die Schweiz. Aber Cordula Gerburg kam mit dem Direktor nicht klar. Dass es problematische Männer im Schauspielgeschäft gab, wusste sie, und mit den meisten kam sie zurecht. »Wenn der schon im Bademantel die Tür öffnet, muss man ja damit rechnen, dass er ihn auch aufmacht. Dann dreht man sich um und geht!« Aber der Impresario in Luzern war gar nicht aufdringlich gewesen, er nörgelte nur ständig an ihr herum. Als sie kündigte, sagte er: »Das wirst du noch bereuen!« Sie bereute nicht und ging ans Theater nach Braunschweig, wo Anfang der Siebziger ein Regisseur namens Peter Zadek im Zuschauerraum auftauchte, der sich ein neues Ensemble für das Schauspielhaus in Bochum zusammenstellen wollte. »Ich war so aufgeregt, dass ich eine Woche vorher aufgehört habe zu kiffen und beim Vorsprechen so steif war, bis er sagte: Nun lächle doch mal! Dann saßen wir nebeneinander und redeten, und irgendwann sagt er: Da ist etwas in deinen Augen, ich engagier´ dich.« Vielleicht ahnte er, dass sie eine von denen war, die es ernst meint. Die meint, was sie sagt. Selbst dann, wenn sie in einer Rolle steckt und gar nicht sie selbst ist.

Eine der wenigen Auserwählten, die fest in Bochum engagiert wurden, war Cordula Gerburg. Und dort war 1972 »die Créme de la Créme des deutschen Theaters: Schroeter, Simons, Bödy. In der Kantine saß Fassbinder, der seinen Boxer dem Regisseur zuliebe Zadek genannt hatte und ständig rief: Zadek, mach Platz! Zadek, sitz!«

Nach den Erfolgen in Bochum ging sie ans Staatstheater nach Darmstadt, gemeinsam mit dem Regisseur István Bödy, den sie für den Mann ihres Lebens hielt, bis dann kein Stuhl mehr frei war im Tonstudio und sie auf dem Schoß des Dramaturgen Ingo Waszerka Platz nahm.


Foto: Privat
Sie inszenierten den Faust, »Teil eins und zwei, an einem Abend! Das hatte bis dahin noch niemand gemacht!« Vier, fünf Stunden dauerte die Vorstellung, Cordula Gerburg spielte das Gretchen. Natürlich war die Rolle eine Ehre, aber auch »eine wahnsinnige Herausforderung. Bei solchen berühmten Rollen, da wirst du immer an den anderen gemessen. Wie spielt die das jetzt?« Aber die Gerburg spielte gut, vielleicht, weil sich im realen Leben gerade ein ähnliches Drama abspielte: Da war Ingo, und da war István. Und als klar war, dass Ingo Bingo war, verließen sie Darmstadt mit dem Versprechen, sofort wieder mit Body zu arbeiten, falls der einmal Direktor werden würde.

Ingo und Cordula unterschrieben einen Dreijahresvertrag in Düsseldorf, ein Jahr später klingelte das Telefon: Bödy war Direktor des Staatstheaters in Karlsruhe. Und weil Cordula Gerburg meint, was sie sagt, und tut, was sie sagt, kündigten sie den Vertrag und gingen 1979 nach Karlsruhe, »was ein ziemlich langweiliger Ort gewesen ist.« Sie spielten den Woyzeck und Kabale und Liebe, dann beschloss sie: »Jetzt bekomme ich ein Kind!« Nach 22 Jahren Theaterspielerei wollte sie »nur noch für das Kind und den Hund da sein. «Sie wollte nach all dem Spielen etwas Ernsthaftes, vielleicht etwas Sinnvolles machen.

1993, Richard II
Foto: Peter Festersen - Cordula Gerburg, links, ihr Sohn William Minke, rechts











Ein Jahr lang hielt sie es durch. Dann musste sie zurück. Sie konnte ohne Theater, ohne wechselnde Rollen und ohne Applaus nicht mehr leben. Sie spielte in Bremen und wieder in Bochum, wo sie 1982 mit Peymann einen ihrer größten Erfolge feierte, »auf jeden Fall versanken wir in einem Meer von Blumen, die auf die Bühne geworfen wurden.« Sie spielten die Fledermaus, »Herbie« Grönemeyer war der Prinz Orlofsky, sie die Adele. Dann kamen Frankfurt, Hamburg, Bad-Hersfeld, und immer war das Glück an ihrer Seite: Bingo! Und als die Mauer fiel, folgte 1993 das kleine, wundervolle Theater von Schwerin, an dem sie die erste West-Schauspielerin war und Ingo der erste West-Intendant. »Schwere Zeiten für mich! Wenn ich in die Kantine kam, verstummten die Gespräche.« Aber nach zwei Jahren hatte sie es geschafft, und es war wohl eine ihrer schwierigsten Rollen, als sie Die Meisterklasse von McNally aufführten. Ein Stück über die gealterte Diva Maria Callas, die ihre Stimme verloren hatte und drei Jahre lang eine Meisterklasse in New York unterrichtete. Cordula Gerburg besorgte sich die Tonbänder von den Mitschnitten des Unterrichts, las Biografien, hörte Platten. »Dass ich die Callas geschafft habe«, war vielleicht das Größte. Gretchen, Medea, Polly..., das sind Kunstfiguren, die man beliebig interpretieren kann. Die Callas ist eine reale Figur, da wird man nicht an den Kollegen gemessen, sondern am Original.

Wenn sie die Callas »geschafft« hat, dann, weil sie immer mit Respekt an die Figuren herangetreten ist. Weil sie auch die fiktiven Figuren so ernst nahm, als lebten sie wirklich und gerade jetzt. Weil sie versucht hat, die Menschen hinter den Rollen zu verstehen. »Man muss meinen, was man sagt!«, egal, ob man die Medea oder die Callas ist. Man muss sich sogar in Arschlöcher hineinfinden und mit Arschlöchern fühlen, wenn man glaubwürdig sein will. Die Callas sagte: »Man muss wissen, was man singt.« Das Gleiche gilt fürs Sprechen.

Viermal nur trat sie als die Callas auf, vier mal stand sie in ihren High Heels auf dem Bretterboden des Mecklenburgischen Staatstheaters, und viermal, sobald der Vorhang gefallen war, musste man die Frau, die gerade noch leichtfüßig über die Bühne tänzelte – »solange du in Spannung bist, fliegst du, egal was für Schuhe!« - zu zweit in die Garderobe tragen. Wo sie Schuhe und Perücke in die Ecke schleuderte, die Schminke abwischte und in Jeans und Turnschuhen in die Kantine ging, um sich Whisky-Cola zu bestellen und die Beine quer über den Tresen zu werfen. »Da kommt ein älterer Herr herein und fragt mich ganz schüchtern, ob ich wüsste, wo Cordula Gerburg sei, er hätte gerne ein Autogramm von ihr. Für den brach eine Welt zusammen, als ihm klar wurde, dass ich das war. Der ist einfach wortlos wieder verschwunden.«

Nach der Callas folgten noch ein paar Jahre auf Brettern in Luxemburg und Hamburg, auch in Berlin trat sie mit Black Rider von Tom Waits im Renaissance-Theater auf, unter der Regie von Ingo Waszerka. Ingo: Bingo! Aber dann, nach 45 Jahren, steht sie eines Abends plötzlich da im Rampenlicht und denkt an diese Szene aus dem Ingmar-Bergman-Film: Eine Schauspielerin in der Rolle der Elektra ist auf der Bühne, spricht ihren Text, alle Scheinwerfer sind auf sie gerichtet, und plötzlich hält sie inne und sagt: »Was mach ich da eigentlich?«– Tritt ab und spricht während des ganzen Films kein einziges Wort mehr.

Cordula Gerburg spricht noch. Aber sie nennt sich jetzt Cordula Minke-Gerburg. Denn dieses Stück war ihr letztes. Mit 66 hat sie sich entschlossen, aufzuhören. »Und das war ein Schock. Natürlich fehlt einem der Applaus - man braucht ein bisschen Eitelkeit, sonst geht man nicht auf die Bühne. Aber das eigentlich Tolle an diesem Beruf ist ja, dass du plötzlich jemand ganz anderes bist. Und wenn du immer in anderen Figuren aufgehst, ständig neue Perücken und Kostüme anlegst, jedes Mal ein anderes Ich, Elizabeth, Polly, Gretchen... und dann stehst du dir plötzlich wieder selbst gegenüber.... Nach 45 Jahren!«

Doch trotz der vielen Rollen, trotz der Heimatlosigkeit des Vagabundierens ist da immer - Bingo! - etwas geblieben: Der Mann an ihrer Seite. Die kleine Wohnung in der Heimstraße. Oder das Haus in Ruest, nicht weit von Schwerin, das ein bisschen so ist wie damals die Rhön. Und dann ist da nicht weit entfernt noch Mestlin, ein kleiner Ort, in dem Susanne Reichhard mit elternlosen Jugendlichen Theater spielt: zwei Deutschen und einer Handvoll Afrikanern und Afghanen.

»Als ich aufhörte mit dem Theater, dachte ich: Ich will was Sinnvolles machen.« Also nutzte sie ihre Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, um Afrikaner aus dem Asylbewerberheim in Parchim, die nur Französisch sprachen, zu den Ämtern zu begleiten.

Einer dieser Afrikaner heißt Camara. Und hat sich entschlossen, seine Geschichte zu erzählen, auf der kleinen Bühne in Mestlin. Camara spricht gut deutsch, aber diese Geschichte, sagt er, könne er nur auf Französisch erzählen. Und so sitzt Cordula Gerburg neben ihm auf der Bühne und übersetzt, simultan, während der junge Mann aus Guinea erzählt, von dem Tag, an dem sie ihr Haus mit Holzpaletten verbarrikadierten und ansteckten, dem Tag, als seine Familie verbrannte; von dem Tag, an dem der Freund sagte: Ich gehe nach Europa, kommst du mit?; von der Nacht, als sie das Meer erreichten, das er nie zuvor gesehen hatte; der Nacht, als man sie aufs Boot scheuchte und einen, der sich weigerte, ins Bein schoss; dem Morgen, als die Sonne aufging und nur noch Wasser um sie war und eine Frau vor Angst aufhörte zu atmen. »Die Leute saßen im Publikum und weinten!«

Camara meinte, was er sagte. Jedes Wort war wahr. Jetzt ist der junge Mann achtzehn Jahre alt geworden. Alt genug, um ausgewiesen zu werden aus Europa. Aber Cordula Gerburg meint, was sie sagt. Sie möchte etwas Sinnvolles tun. Helfen. Sie hat den Anwalt eingeschaltet. Mit Ingo an der Seite. Ingo hat ihr schon oft Glück gebracht. Vielleicht klappt es auch dieses Mal. •



zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg