September 2018 - Ausgabe 202
Strassen, Häuser, Höfe
Die Ritterstraße 75 von Werner von Westhafen |
Eine Geschichte der Spurlosigkeit, 2. Teil 25.000 Menschen sollen bei dem Luftangriff am 3. Februar 1945 in Berlin ums Leben gekommen sein. 83 dieser Toten kamen aus der Ritterstraße 75. Auf der steinernen Tafel auf dem Jerusalemer Friedhof stehen 41 Namen, die Hälfte von ihnen waren Deutsche gewesen, die meisten kaum 30 Jahre alt: Agnes Alexander, Otto Böhm, Breese Rudolf, Döbert - männlich, Drechsler - männlich... Nur ein fremdländisch klingender Name ist im Stein verewigt: Barasino Andrea. Es ist anzunehmen, dass die 42 Namenlosen, die hier begraben sind, Zwangsarbeiter waren, die keine Papiere bei sich trugen, und deren Identität nicht näher bekannt war. Auch über das Haus in der Ritterstraße Nummer 75 weiß man heute nicht mehr viel. Die Straße war schon früh relativ dicht bebaut, 1836 wohnten im Haus mit der Nummer 75 der Silberschmied Buss, ein Kaufmann, ein Tischler, ein Schneider, der Lehrer Schmiel und der Preßler, der alte Hauptmann a. D. Mit dieser bunten Mischung echt Berliner Namen an den Briefkästen war es mit der Jahrhundertwende vorbei. Wie immer in den Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs mussten auch damals schon kleinere Altbauten größeren Neubauten weichen, weshalb sich im Berliner Adressbuch aus dem Jahr 1900 unter der Ritterstraße 75 die Angabe »Neubau« findet. Dieser Neubau war ein Großprojekt, das sich über die Grundstücke mit den Nummern 71 - 75 erstreckte und Höfe von über 6000 Quadratmetern einschloss. »Auf dem gewaltigen Flächenraum ist eine Welt für sich entstanden, die Jedem Bewunderung abnötigt«, schwärmten damals Zeitzeugen. In fünf großen und hellen Höfen entstanden moderne Werkstätten und Lagerräume, 10 Fahrstühle brachten Menschen und Waren aller Art in die Kontore, die sich über 4 Etagen erstreckten. Besonderes Augenmerk aber hatte Baumeister Berndt auf die Eckpfeiler der »Industriestätte 71-75« gelegt, wo er am östlichen und westlichen Ende zwei anmutige Kaufhäuser entstehen ließ, nicht, ohne deren Fassaden einen gotischen Anstrich zu geben. In einer Publikation über Die Handelsstätten der Louisenstadt findet sich ein Bild des Neubaus, das von dem breit gefächerten Angebot des Warenkaufhauses zeugt: Auf der Fassade wird in großen Lettern für Fahrräder, Lampen, Lederwaren, keramische Artikel, Glas, Porzellan und Majolika geworben. Das Vorderhaus ist ausschließlich dem Gewerbe vorbehalten, die übliche Mischung aus Wohnen und Arbeiten fehlt. Zu den ersten Mietern gehören Engel & Kubik, Hoflieferant für »Militär-Effecten«, und Ferdinand Eppler, Spezialist für »Elektronische Einlagen«. »Luxuspapier« der Firma Schimmang und Emaillebilder von Jacob Schnitzer wandern von den Höfen in die Auslagen. Mehrere Druckereien und Verlage siedeln sich an. Doch in den Dreißigerjahren verblasst der Glanz der Ritterstraße. 1931 darf Gehring und Reimers zwar noch das jüdische Adressbuch in der Ritterstraße 75 drucken, der Verlag Schwert und Pflug allerdings, der später einzog, verbreitete bereits völkisches Gedankengut. Und ob die »Berliner Galvanoplastische Anstalt Malchau & Co. KG« 1943 das eiserne Erz noch zu friedlichen Friedhofsengeln und Kunstgegenständen verschmelzen durfte, ist fraglich. Auch was am 3. Februar geschah ist ungewiss. Sicher ist, dass einige der Toten aus der Ritterstraße 75 ihre Ruhe auf den Friedhöfen an der Bergmannstraße fanden. Einer jener, die die Beerdigungen beobachteten, schrieb am 9. August 1947: »Auf dem Friedhof an der Lilienthalstraße wurden an jenem Tag 50 Leute in Massengräbern bestattet. Als ich nach Wochen auf den Friedhof ging, standen noch hunderte von Särgen in Doppelreihen und immer noch zwei Särge aufeinander entlang der Friedhofsmauer. An jedem Sarg war ein Schild mit Namen und Straße befestigt. Aber es gab auch die Särge mit folgenden Inschriften: »Leiche unbekannt« und dann der Fundort; oder »10-12 jähriger Knabe, unbekannt«. An einige dieser namenlosen Toten erinnert heute nur noch eine steinerne Tafel auf dem Jerusalemer Friedhof. • |