Oktober 2018 - Ausgabe 203
Strassen, Häuser, Höfe
Prinzenstraße Ecke Stallschreiber von Dietmar Probst |
Und noch eine Geschichte der Spurlosigkeit. Doch der Oranienplatz und der Moritzplatz waren Zentren jüdischen Lebens. Sm Moritzplatz kreuzten sich 17 Straßenbahnlinien, und das Café Nagler war kein unbedeutendes Etablissement, wie der englischsprechende Historiker herablassend meinte. Auch das Haus selbst war ein imposantes, zweiflügliges Gebäude am Platz. Bereits 1863 hatte ein Zimmermann namens Schiller auf der nordwestlichen Seite des Platzes ein Wohnhaus mit zehn Wohnungen an der Stallschreiber- und zehn Wohnungen an der Prinzenstraße errichtet. Wenige Jahre später verkaufte er Grund und Boden an einen gewissen David Reiss, der gerade dabei war, sein Glück zu machen. Reiss hatte mit seinen Filzpantoffeln wesentlich dazu beigetragen, dass die klappernden Berliner Holzpantinen der armen Leute allmählich aus dem Stadtbild verschwanden. Der Filzschuhfabrikant machte ein gutes Geschäft, zumal er die Fertigung den Sträflingen der kaiserlichen Gefängnisanstalt überließ, die ihm Arbeitskräfte für 45 Pfennig pro Tag vermietete. Und so dauerte es nicht lange, da hatte Reiss genug verdient, um sich ein großes Haus am Moritzplatz leisten zu können. Reiss ließ im Erdgeschoss Schaufenster einrichten, vermietete den Flügel auf der Prinzenstraße an den Garderobenhändler Samuel Meyerstein, der die Auslagen mit Anzügen und Jacken dekorierte, während in den Fenstern an der Stallschreiberstraße nun die »vielen hundert bunten Pantöffelchen« der Firma Reiss ausgestellt wurden, die von hier aus »ihren Weg durch ganz Deutschland« antraten, - wie eine stolze Firmenchronistin schrieb. Das Haus soll ein stattliches gewesen sein, zu Silvester »strahlte es aus allen Fenstern. Im prächtigen Schmuck roter Stoffe, grüner Blattpflanzen und hoher Spiegel pranken die Treppen, über welche zahlreiche Gäste schritten: klugblickende Männer, schöngeputzte Frauen und lebhafte Kinder.« Doch der Erfolg soll dem Pantoffelhelden nicht zu Kopfe gestiegen sein, die Ferien verbrachte er im nahen Sommerhäuschen am Fuße des Kreuzbergs: Eine Karte zeigt die Familie in der Sommerfrische am künstlichen Wasserfall, nicht im mondänen Heringsdorf an der Ostsee. Dort kellnerte zu jener Zeit Ignatz Nagler, ein Einwanderer aus der Bukowina, der 1895 nach Berlin kam und genügend Lehrjahre im Hotel Kempinski verbrachte, um 1908 in der Prinzenstraße Nr. 81 das Café Nagler am Moritzplatz eröffnen zu können. Dabei handelte es sich keineswegs nur um »ein nettes Café in der Nachbarschaft«, wie der Historiker Kreutzmüller vermutete, sondern um ein Etablissement auf zwei Etagen. Während im Erdgeschoss das Café und die hauseigene Konditorei untergebracht waren, befanden sich im ersten Stock das Restaurant und, in zwei zum Hof gerichteten Räumen, die so genannte »Kneipe.« Trotz der unmittelbaren Nachbarschaft von Aschinger und dem späteren Café Moritzplatz im Kaufhaus Wertheim galt das Nagler laut Recherchen der Berliner Geschichtswerkstatt als das »seinerzeit das größte und bestbesuchte Café am Platze«. Fotografien zeigen ein kunstvolles Vestibül, schwere Lüster, einen prachtvollen Speisesaal und Kellner in weißen Anzügen. Das Gerücht, das Cafe Nagler sei eine eher zwielichtige Institution gewesen, drang womöglich aus einigen erhaltenen Polizeiprotokollen, in denen sich Nachbarn über den Lärm beschwerten, der sie um den Schlaf bringe. Tatsächlich hatte das Café bis spät in die Nacht, wenn nicht bis früh in den Morgen geöffnet, und tatsächlich tranken die Gäste am Moritzplatz gerne. Um die Ruhe zu bewahren, sollte Nagler eine zwölf Meter hohe, schalldichte Mauer zum Nachbargrundstück errichten, doch wegen der Wirtschaftskrise beschloss das königliche Polizeipräsidium später, den Wirt von dieser Auflage zu »dispensieren.« Ignatz und Rosa Nagler verließen trotzdem 1925 Berlin, um zu ihren bereits nach Palästina ausgewanderten Kindern zu ziehen. Leon Wohlgemuth, ein Damenhutfabrikant, der in den Räumen des Filzschuhkönigs in der Prinzenstraße einzog, verließ Deutschland dagegen nicht mehr rechtzeitig. Zwar konnte er zunächst beide Häuser kaufen, doch schon 1933 wurde er ein Opfer der Boykottaktionen der Nazis und der »Reichsfluchtsteuer«, die er für die Ausreise seiner Kinder bezahlen musste. Zwar konnte die Witwe Wohlgemuths die Häuser 1938 noch verkaufen, doch die Kaufsumme erhielt sie nie. Erst vor Gericht und im Alter von 83 Jahren wurde sie als rechtmäßige Besitzerin des Grundstücks anerkannt, auf dem nur noch die Trümmer eines Hauses lagen. 1961 werden sie vom Land Berlin, das die Erben ausbezahlt hat, beiseite geräumt, um anstelle des Café Nagler einen schmucklosen Fünfzigerjahrebau zu errichten. Womit die letzten Spuren des glanzvollen Cafés endgültig verschwunden zu sein scheinen. • |