Oktober 2018 - Ausgabe 203
Herr D.
Der Herr D. vorm Atlantic von Hans W. Korfmann |
Von den Senatsschikanen Der Herr D. stöhnte. Sein Rad war platt, und die Fahrradstation in der Bergmannstraße, die zwanzig Jahre lang jedes Loch im Schlauch des Herrn D. in wenigen Minuten wieder geflickt hatte, war geschlossen. Flickzeug hatte er auch keines mehr, und das Rad seines Nachbarn, dessen Zahlenschlosskombination er kannte, war gestohlen worden. Also musste der Herr D. zum Mehringdamm laufen. Als er jünger war, brauchte er für die Strecke 30 Minuten, weil er ständig Nachbarn traf. Wenn er am Mehringdamm eintraf, wusste er alles über das Wetter in Kreuzberg, das Essen in Kreuzberg, die Frauen in Kreuzberg, die Mieten in Kreuzberg, und über den Berliner Senat. Jetzt schaffte er die 0,8 Kilometer in 5 Minuten, denn es gab nur noch Touristen in der Straße. Die Nachbarn waren weggezogen. Weil die gemeinen ebenso wie die gemeinnützigen Vermieter die Mieten erhöht hatten. An diesem Morgen allerdings brauchte der Herr D. für die Strecke 90 Minuten. Weil er Hans traf, einen der dienstältesten Altkreuzberger, der für einige Wochen von der Bildfläche verschwunden und plötzlich wieder da war, als sei nichts gewesen. Hans hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, einmal täglich vor dem Café Atlantic zu sitzen, seine Hand auf den silbernen Knauf seines Gehstockes zu stützen und dem Treiben auf der Bergmannstraße zuzuschauen. »Jetzt sitze ich hier schon seit drei Jahren und warte darauf, dass es mal ordentlich kracht. Aber irgendwie kriegen die immer gerade noch die Kurve.« Früher hatte Hans vor dem Atlantic gesessen und den Frauen nachgesehen, die vorüberspazierten, jetzt konzentrierte er sich auf die Radfahrer, die zwischen den hölzernen Sitzbänken, die man auf die Straße gebaut hatte, hindurchmanövrieren mussten. Hans hatte sich schon immer für jede Art von Schwachsinn interessiert, der dem Berliner Senat in den Sinn gekommen war, aber die neuen innerstädtischen Sitzgelegenheiten interessierten ihn besonders: »Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den nächsten Wochen endlich mal ordentlich kracht, steigt durch die neuen Schikanen erheblich!« Da kam Erwin. Noch so ein Altkreuzberger, der plötzlich untergetaucht war, um wie ein Phönix aus der Asche eines Tages wieder aufzutauchen, als sei nichts gewesen. »Wenn dir die Bergmann gehören würde, was würdest du machen damit?«, fragte Hans, und Erwin sagte: »Ich würde die Sitzbänke wieder abbauen und aufs Tempelhofer Feld stellen. Und die Pflastersteine, die sie auf der Friesenstraße gerade herausreißen, hier hinlegen. Dann rast hier niemand mehr lang. Dann wird das hier bald wieder so sein wie vor 30 Jahren, als man eine halbe Stunde brauchte, um vom Mehringdamm zur Markthalle zu laufen! Dann wär das hier so ´ne richtige Begegnungszone.« • |