Mai 2018 - Ausgabe 199
Herr D.
Der Herr D. besucht Freunde von Hans W. Korfmann |
Der Herr D. besuchte alte Freunde in Bonn. »Und? Kannst du dir die Wohnung noch leisten?«, spotteten sie. »Fährt eure S-Bahn noch? Und was macht eigentlich euer Flughafen?« Der Herr D. hatte ihnen stets vorgeschwärmt von dieser Stadt, die so viel größer war als Bonn, aber viel gelassener. Und so viel grüner! In keiner anderen deutschen Stadt hatte er so breite, von Kastanien, Pappeln und Eichen gesäumte Straßenzüge gesehen. Bis heute unvergesslich war ihm eine Fahrt mit der S1: Kaum hatte der Zug die Stadt verlassen, tauchte er in einen grünen Tunnel, so dicht standen die Bäume an den Geleisen. Berlin war wie Thailand! Aber das war 25 Jahre her. Und Berlin wurde Bonn immer ähnlicher. Mit seinen Autobahnkreuzen und Industrievierteln, den Einkaufszentren und Fußgängerzonen sah es aus wie alle anderen Metropolen des 21. Jahrhunderts. Der Dschungel mit den grünen Tunneln wurde gerodet, die Motorsägen und die Bulldozer der Deutschen Bahn und anderer internationaler Großkonzerne fällten jeden Baum, der ihnen auf der Jagd nach dem hohen Aktienkurs im Weg stand. Sie bebauten die Brachen, die vor dem Fall der Mauer niemand haben wollte, auf denen Hanf wuchs und Abenteuerspielplätze entstanden, Schrott- und Kohlenhändler für ein paar Mark Bretterbuden aufstellten und genug zum Leben verdienten. Auf denen Biertische aufgestellt wurden, Konzertbühnen, Theaterkulissen, Zirkuszelte und Fernseher, um mit langhaarigen Exilanten aus Westdeutschland Fußball zu gucken. Heute hatten die Berliner wieder kurze Haare. Sie rasten mit dem Rad zur Arbeit, als wäre es ein Auto, tranken kein Bier, rauchten kein Haschisch und sahen Fußball nicht in der Kneipe, sondern auf der hauseigenen Kinoleinwand mit einem Freund aus Köln. Es war still geworden, man sprach nicht mehr miteinander in dieser Stadt, in der einst jeder jeden anmeckerte. In der das Meckern zum guten Ton gehörte. Heute stießen die Menschen auf den Straßen, die zu eng waren für so viele, aneinander, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Berlin, diese junge, grüne, bunte Stadt war alt geworden. Berlin, die Stadt der Studenten, Hippies, Künstler, Konsumverweigerer! Die Stadt, in der auch einfache Menschen wie Postbeamte, Kassiererinnen und Busfahrer mit ihrer schlechten Laune stets daran erinnerten, dass die Welt ungerecht war. Diese Stadt verlor allmählich ihr Gesicht. Es hatte sich niemand gefunden, um sie zu schützen. Diepgen, Momper, Wowereit, Müller, keiner hatte verstanden, was für ein Geschenk, was für eine Chance langen Jahre Isolation für Berlin gewesen waren. Wovor dieser eiserne Vorhang sie bewahrt hatte. Und der Herr D., der seinen Bonner Freunden immer so viel von Berlin erzählt hatte, wurde still. Es gab nichts mehr zu erzählen. Weil Berlin längst so war wie Bonn, Bielefeld, Biedershausen. Berlin! • |