Mai 2018 - Ausgabe 199
Geschäfte
Das Antiquariat von Horst Unsold |
Noch nie hatten es Buchhändler so schwer wie heute.Doch ihre Liebe zu den Büchern wird um so größer. Foto: Dieter Peters
Nicht einmal eine Verkäuferin! Erst auf den zweiten Blick erkennt man hinter einem Bücherstapel einen über ein vergilbtes Buch geneigten Kopf mit kurzen, zerzausten Haaren, grauem Bart und der standesgemäßen Lesebrille auf der Nase. Kein Zweifel, das muss der Kopf des Antiquars sein. Seine Gedanken scheinen in Manès Sperbers Biographie vertieft zu sein, es dauert einen Moment, bis Doktor phil. Rainer Minx aufschaut, den kleinen Finger vorsichtshalber zwischen den Seiten des zugeklappten Buches zurücklassend. Für den Fall, dass die Kundschaft nur nach einem Café in der Nähe fragt. Rainer Minx liest das Buch schon zum dritten Mal. In fünf Jahren wird er wahrscheinlich immer noch hier sitzen und es zum vierten Mal lesen. Schließlich haben Wilhelm Fetting und Rainer Minx einen Mietvertrag »bis zur Pension« ausgehandelt. Die erste Vertragsversion war zeitlich befristet, aber dann sagten die freundlichen Bücherwürmer zum freundlichen Herrn von der Gewobag: »Eigentlich wollten wir hier bis zur Pension Bücher verkaufen!« Woraufhin der Vertrag noch einmal umgeschrieben wurde. Natürlich hatten sich noch ganz andere um die 80 Quadratmeter in bester Lage beworben, alle glaubten, es müsse sich um Korruption handeln, »aber wir haben nicht mal Kaffee zusammen getrunken. Die wollten einfach genau so einen Laden hier haben!«, 2001 war sogar die Gewobag noch um die Kreuzberger Mischung besorgt. »Als wir dann mit den Bücherkisten einzogen, kamen ständig Leute vorbei, die hier ein Café oder Restaurant geplant hatten. Die wollten sehen, was für hübsche Frauen sie ausgestochen hatten!« und dann saßen da nur zwei wortkarge, grauhaarige Buchhändler. Die nichts als Bücherkisten in den drei Räumen verteilten! Ganz vorn die Philosophie, die Lyrik und einige Kisten ausgewählter Literatur. Auch die fünf gemächlich knarrenden Stufen hinauf, in den hinteren Gemächern, in denen man herrlich altmodische Speisezimmer einrichten und Millionen verdienen könnte, lagert nichts als Altpapier! Und dort, wo jeden Abend zwanzig vollbesetzte Tische mit schwatzenden jungen Leuten für Leben in der Bergmannstraße hätten sorgen können, stehen allenfalls ein paar ältere Damen und Herren in Schal und Mantel mitten im Raum zwischen Bücherkisten und schweigen. Geben keinen Ton von sich oder flüstern miteinander, als wäre man in der Kirche oder der ägyptischen Abteilung der Staatsbibliothek. Gänzliche Stille allerdings herrscht nie. Man hört das Schlurfen von Schuhen, das Umblättern von Seiten, das Beiseiteschieben eines Kartons mit Notenblättern, in denen junge Musikstudentinnen nach Raritäten suchen. Sobald das Antiquariat die Tür öffnet, huschen sie herein, die Leseratten, auf der Suche nach Paperbacks des Rowohltverlages, Leinengebinden von Diogenes, Büchern von Hesse, Kafka, Dürrenmatt, den Literaturhits der 70er, 80er und 90er. Die meisten, die hier kommen, sind so alt wie Dr. Minx. Und sie haben dieselbe Eigenschaft wie Dr. Minx: Sie lesen Bücher gerne zwei- oder viermal. Es kommen aber auch viele junge Leute, der Unterschied zu den Alten ist nur: Sie legen sich keine eigenen Bibliotheken mehr zu. »Die leihen nur noch aus!« Kürzlich tauchte nach zwei Jahren des Verschwundenseins eine junge Frau wieder auf, »drei Bücher in der Hand, die sie zwei Jahre zuvor hier gekauft hatte.« Sie sei in Paris und New York gewesen, jetzt sei sie wieder da. Und die Bücher auch! Zwei andere literarische Werke waren sogar bis an den Polarkreis auf eine Forschungsstation gereist, um dort zu übersommern, bevor sie dann wieder in der Bergmannstraße landeten. Die Zeiten, als man Bücher ins Regal stellte, mit den Büchern lebte, sich Bibliotheken zusammenstellte, scheinen vorbei zu sein. Wer ein Zitat sucht, nimmt sein Handy. »Wenn Geisteswissenschaftler starben oder ins Seniorenheim zogen, vermachten sie ihre Bibliotheken Stiftungen oder Bildungseinrichtungen, oder sie boten sie eben den Antiquariaten an. Wir holten die dann ab, mal 30, mal 300 Kartons! So blieben die Bücher in der Stadt, manchmal landeten sie nur ein paar Häuser entfernt im Antiquariat.« Heute werden sie in alle Welt verstreut - per Mausklick! In der Bergmannstraße gibt es keine Computermäuse, nur Leseratten. Hier wird mit dem Stift Buch geführt. Die Schildchen für die einzelnen Sachgebiete in den Regalen haben die Antiquare auf dem heimischen Computer gedruckt und mit Klebeband auf die schmalen Regalbretter geklebt. Die Bergmannstraße ist das Reich der Geisteswissenschaften, die Technik, die Medizin, nicht einmal die Naturwissenschaften sind hier geduldet. Stattdessen großartige und großformatige Fotobände, Bücher über Buster Keaton, die modrig duftenden »Filmkritikhefte« aus den Sechzigerjahren mit dem ersten nackten Po der Brigitte Bardot, uralte Merian-Hefte. Selten verlässt jemand das Reich der Geisteswissenschaften ohne ein Buch in der Hand. Auch wenn es eines sein könnte, das dieser Leser es schon drei Mal gelesen hat. Er nimmt es mit in dem Bewusstsein, dass dieses Reich vom Untergang bedroht ist. Er weiß: Es ist ein letzter Lichtblick in dieser Straße der Cafés und Restaurants, ein letztes Relikt aus fast schon vergangenen Zeiten. • |