Kreuzberger Chronik
März 2018 - Ausgabe 197

Geschichten & Geschichte

Das Lied der langen Nächte


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von Michael Unfried

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Genau vierzig Jahre ist es jetzt her, da eroberte ein Lied die Charts, das bis heute unvergessen blieb. Es wurde geschrieben von einem müden, halb betrunkenen Studenten und begann mit den Worten: »Ich sitz schon seit ´ner Stunde ziemlich dumm / allein an meinem Kneipentisch herum...« Es ist das Lied von den langen Kreuzberger Nächten.

Es gibt sie noch, diese Nächte, wenn auch nicht mehr in den Kreuzberger Kneipen, deren Türen allen offenstanden, sondern in geschlossenen Clubs. Menschen aus aller Welt kommen und verwandeln ganze Straßenzüge in Partymeilen, auf denen bis in den grauen Morgen getanzt wird. Das Lied des Studenten könnte dazu beigetragen haben, Kreuzberg den Ruf eines Vergnügungsviertels einzutragen.

Getanzt allerdings wurde in den Kneipen, in denen das Lied von den Kreuzberger Nächten entstand, eher selten. Man saß und trank und unterhielt sich. So wie im legendären Leierkasten an der Baruther Straße. Obwohl es auch dort eine Bühne gab, auf der Literaten und Jazzbands auftraten. Sogar die Gebrüder Blattschuss sollen dort aufgetreten sein und dieses Lied gespielt haben, das dem Stadtviertel an der Mauer den Weltruf eines Vergnügungsviertels ohne Sperrstunden einbrachte: Kreuzberger Nächte sind lang.

Entstanden ist das Lied jedoch in einer jener wenigen Kneipen, in denen um Mitternacht der Bordstein hochgeklappt wurde. Die Kneipe an der Ecke der Liegnitzer und der Reichenberger Straße hieß Alt Berlin und war eine typische Eckkneipe, in der sich Künstler, Studenten und Arbeiter Stühle, Tische und Tresen teilten. Was sie von den anderen Schultheiss-Tränken unterschied, war die Sammlung alter Standuhren, die der Wirt im Gastraum aufgestellt hatte, und die jeden Abend um 12 alle gemeinschaftlich die letzte Runde einläuteten.

Die »Uhrenkneipe« war auch der Treffpunkt einiger Studenten aus Osnabrück, die in der Liegnitzer Straße wohnten, unter ihnen Beppo Pohlmann, der in der Nummer 16 eine Ein-Zimmer-Wohnung für 60 Mark gefunden hatte. In einer dieser kurzen Nächte in der Uhrenkneipe, zwischen den »Langzeitstudenten«, den »schimpfenden Alten« und einem Lokaljournalisten, der das Milieu studierte, kam Beppo die Idee zu diesem Lied von den langen Kreuzberger Nächten:

Ich sitz schon seit `ner Stunde ziemlich dumm / allein an meinem Kneipentisch herum. / Ich trinke schnell, obwohl ich‘s nicht vertrag, / weil ich weder volle noch leere Gläser mag. / Da plötzlich setzen sich 6 Mann zu mir / und bestellen lautstark: »Bringen‘s mal 3 Bier«. / Ich seh‘ schon doppelt und das aus gutem Grund, / denn in Eckkneipen geht es nun mal rund. /Kreuzberger Nächte sind lang, / Kreuzberger Nächte sind lang, / Erst fang sie ganz langsam an, / Aber dann, aber dann...

Es war das Jahr 1974, Beppo Pohlmann trat mit den Gebrüdern Blattschuss auf, zu denen damals auch noch Jürgen von der Lippe gehörte. Beppos Lied von den langen Nächten wurde ins Repertoire der Gebrüder aufgenommen, doch spielten sie das Stück, das eher »als Parodie auf die herkömmlichen Stimmungslieder« und nicht als Kreuzberger Nationalhymne gedacht war, bei ihren Auftritten höchstens »als fünfte Zugabe«. Auch als die Gebrüder 1978 ihre zweite LP aufnahmen, kam das Lied nur mit auf die Platte, weil noch ein paar Rillen frei waren.

Der Durchbruch kam mit dem Radio. Irgendjemand beim RBB legte die Platte gleich mehrmals täglich auf den Plattenteller, nur um dieses Lied von den Kreuzberger Nächten zu spielen... »Jetzt fragt mich doch so‘n Typ, ob ich studier, / ich sag: Ja Wirtschaftspolitik drum sitz ich hier. / Da sacht der, dass er von der Zeitung wär‘ / und er wäre der Lokalredakteur. / Ein Rentner ruft: »ihr solltet euch was schämen!«, / ein andrer meint das liege alles am System...« – So fing alles »ganz langsam an, aber dann, aber dann...«

Dann wurden 5000 Singles von der Kreuzberghymne gepresst, um die Musikboxen in den Kreuzberger Kneipen damit zu versorgen. Was die Popularität des Liedes weiter steigerte, weshalb man weitere Singles presste. Innerhalb weniger Wochen hatten die Gebrüder 20.000 Scheiben verkauft, weshalb das ZDF anrief und fragte, ob sie nicht in der Hitparade auftreten wollten.

Voller Graus vor der spießigen Schlagersendung schüttelten die Kreuzberger ihre Mähnen, aber als man ihnen eine Gage von 3000 Mark für einen einzigen Auftritt im Fernsehen versprach, sagten die Studenten zu. Nach dem Fernsehauftritt der Gebrüder im Oktober 1978 dauerte es nicht lange, da lagen sie auf Platz zwei der deutschen Charts, wo sie 24 Wochen lang blieben. 800.000-mal ging das Lied über die Ladentheken, womit Beppo Pohlmanns »Schicksal als Musiker endgültig besiegelt war«.

Bis heute, so erzählt er, könne er von den Tantiemen leben, auch wenn er das Lied zwischenzeitlich »schon nicht mehr hören konnte.« Beppo Pohlmann dürfte es nie bedauert haben, wenn er an diesem Abend eine Stunde allein in der Uhrenkneipe herumsitzen musste. Auch wenn der nächste Morgen einer dieser unvergesslich schweren Morgen war:

»Früh morgens wach ich auf 16 Uhr 10, / die ganze Welt scheint sich um mich zu dreh‘n. / Nur im Magen fühle ich mich nicht so recht, / eins von den dreisich Bierchen gestern war wohl schlecht.« •

Literaturnachweis: Hanno Hochmuth, »Kiezgeschichte - Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin«, Wallstein Verlag 2017, ISBN 978-3-8353-3092-4


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