Kreuzberger Chronik
März 2018 - Ausgabe 197

Geschäfte

Vor allem Blusen


linie

von Horst Unsold

1pixgif
Sie hat lange darüber nachgedacht, wie ihr Laden heißen soll. Vier Jahre jetzt schon. Und sie denkt immer noch.

Als die Schneiderin vor vier Jahren damit begann, den kleinen Laden am oberen Ende der Friesenstraße zu renovieren - als sie also den alten Teppichboden herausgerissen hatte, unter dem die karierten Kacheln der alten Fleischerei wieder zum Vorschein kamen, als sie die Tapeten auf die Straße geschleppt hatte, unter denen dieser herrliche »Arme-Leute-Marmor« zum Vorschein kam – da sprachen sie die Kreuzberger Passanten, die ein weiteres Café befürchteten, sofort an: »Und was kommt da jetzt rein?«

Foto: Cornelia Schmidt
Da sie die Kreuzberger gut kannte, weil sie schon immer in der Nähe des Südsterns wohnt, und weil ihre Familie sozusagen zu den ältesten Kreuzbergern überhaupt gehört, und da sie auch noch gar nicht wusste, wie sie ihren Laden nennen sollte und was genau sie eigentlich machen wollte, antwortete sie: »Wahrscheinlich Blusen. Vor allem mach ich Blusen!«

Als alles aus- und eingeräumt war, die Nähmaschinen und das Bügelbrett hinten in dem kaum zwei Meter schmalen Flur ihren Platz gefunden hatten, als sie ihre Schwarz-Weiß-Fotografien mit einigen ihrer wahrscheinlich tausend Stecknadeln an die Wand gepinnt und es sich halbwegs gemütlich gemacht und den ersten Kaffee gekocht hatte, schrieb sie »Vor allem Blusen« über ihren Laden. Wahrscheinlich hatte sie kurz darüber nachgedacht, ihren wohlklingenden Familiennamen über den Laden zu schreiben. Der berühmte Name hätte eine gewisse Werbewirksamkeit, »Vor allem Blusen« klang dagegen bescheiden und erklärte mit einfachen Worten, worum es ging. Außerdem war es viel außergewöhnlicher als 24Colours oder The Fashion Store – Namen, die zudem eher junge Touristinnen auf der Suche nach T-Shirts als Frauen um die Dreißig in ihren Laden gelockt hätten.

Es sind also eher Damen, die sich in die kleine Schneiderei verirren, obwohl es auch Hemden und manchmal Röcke gibt. Nur ein Herr fand sich bislang unter ihren Kunden, und der war ein Nachbar. Ansonsten waren alle weiblich, und alle hatten sie einen Sinn für schöne Stoffe und gute Schnitte. Und natürlich den Mut zum Individuellen.

Die Frauen stehen am Kleiderständer vor der rot-marmorierten Wand, an dem die Hemden und Blusen in zwei langen Reihen bis unter die stuckverzierte Decke hängen - so hoch, dass man mit einer langen Stange nach ihnen angeln muss. Lauter verschiedene Schnitte in vielen Größen. Schnitte, die sie selbst entworfen hat, hunderte. Trotzdem griffen neulich kurz hintereinander gleich zwei Frauen nach der gleichen Jacke. »Typisch!,« sagt die erste und zupft am Ärmel herum. »Es ist immer das gleiche! Passt oben herum perfekt, aber die Ärmel sind zu kurz.« - »Kein Problem!«, sagt die Schneiderin, »Dann mach ich die mit langen Ärmeln!« und nimmt Maß. Die zweite, die wenig später nach der Jacke greift, hat das umgekehrte Problem: Die Ärmel sind zu lang. »Kein Problem!«, sagt die Schneiderin und nimmt Maß.

Auch wenn sie Maß nimmt und die Einzelteile gern ein bisschen anpasst: Eine Maßschneiderin ist sie nicht. »Das wäre zu viel Arbeit!« Die Schneiderin ist schon jetzt besorgt, dass ihre Blusen für die Durchschnittskreuzbergerin zu teuer sind, und fragt sich, ob nicht auch dieser kleine Laden schon zur Gentrifizierung beiträgt. Auch wenn sie sich als Handwerkerin sieht, vielleicht »als Künstlerin«, aber nicht als eine jener Kauffrauen, die nur einkaufen und verkaufen.

Wahrscheinlich würde schon die Enge ihrer winzigen Werkstatt sie von jedem Vorwurf der Gentrifizierung freisprechen. Sie hat kaum Platz für die Beine unter dem schmalen Arbeitstisch mit der großen Industriemaschine. Hinter ihr drängen sich in einer Mauernische auf hölzernen Regalbrettern die Stoffe eng aneinander, auch im Flur stehen Stoffrollen, im Schaufensterzimmer und unter dem Schneidetisch. Die Fahrenden Händler, die mit Stoffen über die Lande ziehen, machen seit vier Jahren auch in der Friesenstraße Halt.

Am liebsten würde die Schneiderin die Stoffe selbst bedrucken. Tatsächlich hängen zwischen den Blusen aus fester Schafwolle, die beinahe schon wie Jacken aussehen, auch einige aus einem leichten, dünnen Stoff, deren kleine Farbtupfer dadurch entstanden sein könnten, dass eine Malerin die weiße Bluse zu nah an der Staffelei stehen hatte. Tatsächlich sind die bunten Kleckse durch einen Pinsel entstanden, wenn auch nicht unbedingt zufällig.

Nichts ist zufällig an der Arbeit der Schneiderin. Sogar dann, wenn sie improvisiert; wenn ihr die Nadel der Nähmaschine durchgeht und sie plötzlich mit rotem Garn eine geschwungene Linie auf den dunkelgrauen Wollstoff näht. Oder eine bunte Tasche auf die Bluse setzt. Sie ist keine Designerin, die erst entwirft und dann nach Plan näht. Wenn sie den Stoff in der Hand hält und die Maschine zu laufen beginnt, wird die Nadel zum Stift, der Stoff zur kreativen Fläche.

Doch viele sehen die Kunst nicht. Sie betrachten sich und die neue Bluse »und sehen die Bilder hinter sich im Spiegel nicht.« Minimalistische Grafiken und Aquarelle, die in filigranen Rahmen eine ganze Wand ausfüllen, schlichte, weiße Papiere, angereichert mit Skizzen, Modezeichnungen, Farbtupfern, Linien. Daneben liegen, in einem Sessel, drei dicke Skizzenbücher. Wer sie aufschlägt, dem weht sofort ein Duft von Firnis und Farben entgegen. Jedes Detail im Reich der Schneiderin verbreitet eine Ahnung von Kunst und Schönheit.

Auch die Schaufensterpuppen, die einmal die Woche neu eingekleidet werden, damit es den Leuten auf der Straße nicht langweilig wird. Manchmal kommt jemand kurz herein, nur um zu sagen: »Das haben Sie aber wieder schön gemacht, Frau Mendelssohn.« •




zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg