Februar 2018 - Ausgabe 196
Geschäfte
Meisterschuh von Joachim Jung |
Früher gab es ganze Schustergassen voller Schuhmacher. Heute ist das alte Handwerk selten geworden. Kropp, sagt der Meister, »Einfach Kropp! Wie Krupp, nur mit ‘o‘ und nicht so reich.« Der Orthopädieschuhmacher veranlasst den jungen Mann, auf ein Podest zu steigen, um dessen Haltung zu studieren. Er nimmt sich Zeit für diese Haltungsinspektion. Sie ist die Grundlage aller folgenden Arbeitsgänge. Der Raum wirkt wie ein Atelier, die Deckenlichter sind auf den Kunden gerichtet. Wie ein Künstler, der die Proportionen seines Modells studiert, betrachtet er den Kunden. Kein Computer kann ihm diese Arbeit abnehmen. Schließlich legt er Zeige- und Mittelfinger beider Hände seitlich auf die Hüftknochen des Probanden. »Hier, da hamwa die Ursache für seine Beschwerden. Sehn Se dit? Die linke Hüfte steht höher als die rechte. Dit sind mindestens 1,5 Zentimeter. Ab 8 Millimeter Hüftstandunterschied kann die Wirbelsäule die asymmetrische Belastung nicht mehr ausgleichen und Rückenprobleme sind vorprogrammiert. Viele wissen det ja nich, det ihr Skelett Asymmetrien hat und wundern sich, det se Schmerzen ham. Und Rücken is ja ‘ne Volksseuche, det wissen wa ja. Dabei brauchen die sich nur ma vorn Spiejel stellen und sich ihre Haltung ankieken. Denn würden se sehen, det da wat schief is, det man verrückt ist, im wahrsten Sinne des Wortes.« »Kein Orthopäde hat mir was von Hüftstandunterschied erzählt. Immer nur Skoliose!«, sagt der junge Mann. Kropp dämpft die Erwartungen. Diesmal in Hochdeutsch. »Sie dürfen jetzt aber keine Wunder erwarten. Wir verändern nur die Körperhaltung, in der Hoffnung, die Symptome zu lindern. Aber an die veränderte Haltung muss sich der Muskel-und Knochenapparat erst einmal gewöhnen. Wir werden höchstens 8 mm für die Einlage nehmen, also ungefähr die Hälfte des Hüftstandunterschiedes. Wir können ja nicht Jahrzehnte einer Fehlstellung von heute auf morgen ungeschehen machen. Und dann sollten Sie regelmäßig Rückentraining machen, Muskelaufbau bedeutet weniger Gelenkabbau.« »Kann ich dann wieder Basketball spielen?« Kropp zögert. »Wir versprechen nichts.« Drei Tage dauert es, bis die Einlagen fertig sind. Meisterschuh hieße nicht Meisterschuh, wenn es nicht um Maßanfertigungen ginge. Hier werden Schuhe noch in Handarbeit hergestellt, am Engeldamm gibt es noch Leistenmacher, die für jeden Fuß ein passendes Holzmodell anfertigen. Es gibt noch den Schaftmacher und den Schuhmacher, der Sohle und Schaft zum fertigen Schuh zusammennäht. Die Schaftherstellung war einmal ein eigenständiger Handwerksberuf. Heute gibt es kaum noch welche, aber Hamid versteht noch was davon. Hamid war ein Glücksgriff für uns. Vielleicht waren wir auch ein Glück für ihn.« Hamid hat den Masterabschluss in Business Administration, den Bachelor in englischer Literatur und nebenbei 22 Jahre Erfahrung als Schuhmacher. Er besaß eine eigene Schuhfabrik in Teheran, dann musste er flüchten, mit Frau und Kindern. Weil er Christ war. Sie hatten es nicht leicht in den Hangars von Tempelhof, im Flüchtlingslager, wo ihm die Muslime das Kochen verboten. Man sieht ihm an, dass er über diese Zeit lieber nicht sprechen möchte. Es gibt Geschichten, die können nicht erzählt werden. Hamid spricht lieber über die Arbeit. Er erklärt, wie nach den Maßen des Fußes der Leisten gemacht wird. Wie vom hölzernen Leisten eine Hohlform aus durchsichtigem Kunststoff abgenommen wird, in die der künftige Schuhträger schlüpft, damit eventuelle Korrekturen vorgenommen werden können. Abhängig vom Design des Schuhs werden nun 10 bis 20 verschiedene Papiersegmente zugeschnitten, die aneinandergesetzt wieder die Hohlform ergeben würden. Diese Papiersegmente sind die Muster für den Zuschnitt der verschiedenen Lederteile, die, zusammengenäht, den Schaft ergeben. Hamid zeigt einen Schuh, an dem er gerade arbeitet, von allen Seiten. Ein Anflug von Stolz huscht über sein Gesicht. Bis ein Schuh fertig ist, mit Anproben und Zwischenproben, vergehen Wochen. Und nach dem ersten Paar Schuhe kommt oft bald das zweite. Denn die Leute »laufen plötzlich wieder«. Auch der Basketballer mit seinen Einlagen kehrt ein Jahr später zurück zum Engeldamm. »Und wie jeht‘s mit den Einlagen?«, fragt Kropp, um die zweite Einlage anzufertigen - diesmal vielleicht schon mit 10 Milimetern. »Super! Sechs Körbe. Ich bin noch nicht so gut wie früher, so schnell mal unten durch die Verteidigung und dann mit einem Rebound den Korb machen, das war noch nix, aber sechs Körbe...« • Fotografien: Ben Fuchs |