Dez. 2018/ 2019 - Ausgabe 205
Reportagen, Gespräche, Interviews
Alea Iacta Est von Hans W. Korfmann |
Die Würfel sind gefallen: Seit dem 1. November ist der Fahrradladen in der Bergmannstraße geschlossen. Fast ein Jahr lang kämpfte er gegen seine Kündigung. Ohne Erfolg. Stefan Neitzel liebt Fahrräder. Nach dem Abschluss des Studiums legte er die 1224 Kilometer ins baskische San Sebastian mit einem selbst gebauten Fahrrad zurück. Am Morgen des 13. Dezember allerdings sitzt er nicht im Sattel. Er trägt keine kurzen Hosen und keinen Fahrradhelm, sondern einen schwarzen Mantel, und er lenkt seinen Seat Leon in rasantem Tempo durch den Berliner Verkehr. Als er endlich vor dem Saal 331 des Landgerichts eintrifft, ist es 9 Uhr 40. Der Raum ist leer, einsam sitzt der Richter am Tisch und schaut von seinem Bildschirm auf. »Die Verhandlung ist geschlossen! Sie kommen fünf Minuten zu spät«. Stefan Neitzel ist schon immer zu spät gekommen, schon auf der Schule. Er hat zu viele Ideen im Kopf, zu viele Pläne. Sein Tag bräuchte 36 Stunden. »Wie ist es ausgegangen?«, fragt er den Richter. Und der Richter antwortet: »Ich werde der Räumungsklage wohl stattgeben müssen.« Stefan Neitzel murmelt etwas von Arbeitsplätzen und Mitarbeitern. Davon, dass dieser Laden seine Existenzgrundlage ist. Der Richter hebt die Schultern. »25 Jahre Arbeit!«, sagt der Fahrradhändler und steigt die steinernen Stufen des Gerichtsgebäudes hinab, »Ein Viertel Jahrhundert!« Erst in den Katakomben bemerkt er, dass er längst im Keller angekommen ist. »Ich hatte mal 73 Angestellte! Ich dachte, ich bekomme mal so ne Blechmedaille wie in der DDR – stattdessen kriegt man ständig ein Brett vor den Kopp!« Er kehrt um, steigt die Stufen wieder hinauf, am Pförtner vorbei, Tränen in den Augen. Der Pförtner nickt, höflich, schweigend. Er kennt ihn schon, diesen Anblick von Menschen, die am Ende sind. Draußen scheint die Sonne, Neitzel sagt: »Man verliert die Lust, wenn man 25 Jahre für etwas kämpft, und dann so was! Vielleicht fange ich einfach noch mal was ganz Neues an.« So wie damals. 1992. Als die BVG tagelang streikte und nicht nur Stefan Neitzel, sondern alle zu spät kamen. Da kam er auf die Idee, Fahrradstationen zu eröffnen und tageweise Räder zu vermieten. Ein Vierteljahrhundert, bevor Lidl oder die Chinesen auf die Idee kamen, Fahrräder auf die Straße zu stellen. Zu dritt machten sie in der Kreuzberger Großbeerenstraße einen Laden auf: ein Musikpädagoge, der aus Liebhaberei Fahrradanhänger zusammensägte, ein Maschinenbaustudent und der Politologe Stefan Neitzel. Drei Jahre später waren es drei Läden, mit Werkstatt und Verkauf. Und 1999 kam dann der Laden in der Bergmannstraße hinzu, Neitzels Hauptstation. Neitzels Existenzgrundlage. Im selben Haus, in dem er seit 1987 auch wohnte. Es sah also aus wie eines dieser Gründerzeitmärchen. Doch Stefan Neitzel füllte nicht nur den Laden, sondern auch den Hof mit Fahrrädern. Neid kam auf, in den Augen skeptischer Nachbarn wuchs der antikapitalistische Politologe schnell zum kapitalistischen Großunternehmer. Freunde, mit denen er einst Feste feierte, wurden zu Feinden, die beim Hauseigentümer Beschwerde einreichten. Das kam der Gewobag gerade recht, die mit den Immobilien in der Bergmannstraße gute Geschäfte macht, seit die Branche die Straße anpreist, als sei sie die Champs-Élysées. Die Quadratmeterpreise haben sich in den letzten Jahren verdreifacht, die Liste alteingesessener Ladenbesitzer, die wegen überhöhter Mietforderungen die Straße verlassen mussten, ist lang: Es begann vor zehn Jahren mit dem kleinen Edeka-Laden und dem Rebgarten, zu den letzten und prominentesten Opfern gehören Schlumms Werkzeugladen aus den 60ern, der Plattenladen Logo aus den 80ern und die Espresso-Lounge aus den 90ern. An dieser Goldmeile besitzt die Gewobag gleich 10 Häuser. Schon 2013 versuchte sie, den Mietvertrag mit dem Fahrradladenbesitzer aufzulösen. Es bedurfte eines Anwalts, um eine Verlängerung auszuhandeln. Doch diesmal sieht es schlecht aus. Sogar der Fahrradhändler ist skeptisch: »Ich bin ein gnadenloser Optimist! Aber wenn man zu lange auf einem herumhaut ...« Schon einmal hat Stefan Neitzel einen Prozess verloren. Damals war er mit der Deutschen Bahn in Streit geraten, mit der über ein gemeinsames Konzept für Fahrradstationen in Bahnhöfen nachgedacht hatte. Bis die Deutsche Bahn genug hatte von seinen Ideen und alleine weitermachte. Für Stefan Neitzel hatten sie noch ein paar Quadratmeter im Bahnhof Friedrichstraße übrig, die sie ihm zu einem halbwegs fairen Preis zu vermieten schienen. Wenig später begannen sie damit, seinen Laden einzurüsten, nur noch selten sah man jemanden, der ein Fahrrad durch das Stangengewirr fädelte. Stefan Neitzel beantragte Mietminderung, und als die Bahn sich so stur stellte wie die Gewobag, zog er vor Gericht. Es war von Anfang an ein aussichtsloser Kampf, es war die uralte Geschichte von David gegen Goliath. Das ist viele Jahre her, jetzt geht ihm diese alte Geschichte noch einmal durch den Kopf. Vielleicht sollte er wirklich etwas ganz anderes beginnen. Wie in Trance steuert er das Auto zurück in die Bergmannstraße. Sein Anwalt ruft an. Es sehe schlecht aus, die Gesetzeslage sei »verwirrend«. Er habe zwar alle Mietrückstände beglichen, aber da seien noch 160 Euro. »Letztendlich geht es um 160 Euro!« – Einen Moment lang ist es still im Auto. 160 Euro gegen 18 Jahre gezahlter Miete! 160 gegen 500.000! »Man kann mir doch nach so vielen Jahren nicht wegen 160 Euro den Laden dicht machen.«, zweifelt Neitzel. – »Ja, das ist schon ruppig. Ich glaube, die wollen Sie einfach loswerden!«, sagt der Anwalt. Neitzel versucht, die Presse einzuschalten. Aber die Pressesprecherinnen dürfen nicht sprechen: »Dazu können wir Ihnen leider keine Auskunft mehr geben!«, heißt es am Telefon. Schriftlich teilt man mit: »Auskünfte über Mietverhältnisse können und dürfen wir, insbesondere aus Gründen des Datenschutzes, generell nicht erteilen. (...) Wir können Ihnen aber versichern, dass die Gewobag als landeseigene Wohnungsbaugesellschaft sehr um das Wohl ihrer Mieterinnen und Mieter bemüht ist...« Doch Stefan Neitzel wird zunehmend unwohler. »Die wollen mich totschweigen.« Aber genau das möchte er vermeiden. »Und wenn ich mich gut beleuchtet im Schaufenster meines Ladens aufhängen muss. An einem Galgen mit dem Logo der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft.« Stefan Neitzel hat es schon auf der Schule geschafft, die Leute auf seine Seite zu bringen. Die ganze Klasse erschien aus Solidarität mit dem notorisch Unpünktlichen nicht zum Unterricht, bis die Direktion am Ende einlenkte. Diesmal startet er eine Unterschriftenaktion, um den Laden zu retten. Und stößt auf Solidarität im Viertel: »Gib her die Liste!« Nur die Gewobag ist unsolidarisch und lehnt weiter jedes Gespräch ab. Auch der Mieterrat der Wohnungsbaugesellschaft will sich aus der Sache lieber heraushalten. Nachdem sich der Rat zunächst freut, Neitzel auf der nächsten Sitzung »begrüßen zu dürfen«, wird er plötzlich wieder ausgeladen. Man sei der »Vertraulichkeit« verpflichtet. Immerhin erklärt man sich bereit, einen Brief an den Vorstand zu schreiben. Beim Fahrradhändler aber bleibt der Eindruck haften, man wolle sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Die Fallhöhe ist groß. »Wir sind schließlich auch nur Mieter bei der Gewobag!« Es scheint, als fürchte jeder bei der Gewobag entweder um seine vier Wände, oder um sein Gehalt. Auch die Antwort der Anwaltskanzlei Borschke, die bei Gericht für die Gewobag auftritt, ist äußerst kleinlaut: »Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich dazu nichts sagen kann. Ich hänge schließlich an meiner Zulassung!« Der einzige, der über die Angelegenheit spricht, ist Neitzels Anwalt Oliver Nawrot. »Das ist schon auffällig,« sagt er, »wie sich die Gewobag in diesem Fall verhält. Einer ihrer Vertreter hat mir sogar den kollegialen Handschlag verwehrt – was äußerst unüblich ist.« Denn vor Gericht geht es eigentlich zu wie im Boxring: Erst reicht man sich die Hände, dann geht man aufeinander los. Aber die Gewobag scheint keinen großen Wert auf Fairness zu legen. Foto: Dieter Peters
Die Geschäftszentrale der Gewobag - Foto: Sabine Dobre Sie agiert an einem von Paragraphen gesäumten Rand der Legalität. Sie hat, sagt der Anwalt, »ihre Möglichkeiten im Rahmen der Gesetzmäßigkeiten voll ausgeschöpft«, vielleicht im Auftrag der Firma die Mietsache Neitzel »schon geraume Zeit beobachtet« und nur darauf gewartet, dass er einen Fehler macht. Um zuzuschlagen. Das ist unmoralisch. Unfair. Asozial. Stefan Neitzel fallen viele Worte ein. Er versucht es weiter mit Briefen, Telefonaten, über den Anwalt. Aber die Gewobag schweigt. Vergeblich versucht er, Kontakt zur Sachbearbeiterin aufzunehmen, aber »Durchwahlen geben wir nicht weiter.« Auch nicht, wenn es ums Überleben geht. Bei den Gewerbemietern geht es oft ums Überleben. Zumindest das ihrer kleinen Läden. Die Presseabteilung erklärt indes weiterhin stereotyp, der Firma sei »stets daran gelegen, mit ihren Mieterinnen und Mietern einvernehmliche Lösungen herbeizuführen«. Das vom Gericht vorgeschlagene Mediationsverfahren zu einer »einverständlichen Lösung des Konfliktes« hat sie dennoch ohne Begründung abgelehnt. Obwohl das Gericht schrieb, man würde »sich freuen«, wenn die Gewobag »von dieser besonderen Gelegenheit Gebrauch machen würde.« Zuletzt wendet sich der Fahrradhändler an die Politik. Canan Bayram, Nachfolgerin Christian Ströbeles, reagiert. Sie verfasst einen Brief an die Gewobag, bedauert die Ablehnung sämtlicher »Gesprächsversuche« und schreibt, dass ein solches Verhalten »im Interesse des Erhalts attraktiver und funktionierender Nachbarschaften bedauerlich« sei. Selbst wenn es triftige Gründe für eine Kündigung gäbe, spreche doch die »lange Mietzeit von 19 Jahren für ein Wohlverhalten der Fahrradstation« und dafür, »die Möglichkeit einer gütlichen Einigung ... noch einmal gründlich zu erwägen.« Sie lädt sogar zu einem Gespräch in den Bundestag ein. Doch die Gewobag bedankt sich. Für den Versuch der Vermittlung. Es »gebe noch andere Verwerfungen«. Mit dem Mieter Neitzel werde man sich auf keine gütliche Einigung einlassen. Er ist ein unbequemer Mieter. Auch der Widerstand im Viertel lässt nicht nach. Neitzel besitze sieben Filialen und ein Mietshaus. erblockiere die halbe Bergmannstraße mit seinen Rädern und vermiete seit Jahren Mietwohnungen an Feriengäste. Stefan Neitzel kennt die Vorwürfe, vor einem Jahr standen sie mit Schildern vor seiner Haustür und vor seinem Laden und protestierten. Neitzel schüttelt den Kopf, er vermiete nicht. Er hatte der Gewobag ebenso scherzhafter wie ernsthafter Weise sogar angeboten, eine Videokamera zu installieren, um das angebliche Kommen und Gehen zu dokumentieren. Und als er tatsächlich für einige Wochen einen Gast hatte, meldete er diesen vorsichtshalber bei der Gewobag an. »Ich weiß nicht, wer diese Gerüchte in die Welt setzt. Und vor allem: Warum? Ich habe echt keine Ahnung!« So Stefan Neitzel zu den Vorwürfen. Doch seine Widersacher lassen sich nicht umstimmen, sie machen mobil. Auch die Berufung vor Gericht scheitert. Und da er seine Räder nicht freiwillig aus dem Laden schiebt, trifft am 28. 10. das Schreiben des Gerichtsvollziehers ein, Termin für die Zwangsräumung ist der 5. November. Wie üblich wird „ausdrücklich darauf hingewiesen“, dass noch im Raum befindliche Sachgüter entweder „der sofortigen Vernichtung zugeführt“ oder kostenpflichtig eingelagert werden. Neitzel räumt aus. Am 1. 11. bleibt der Laden geschlossen. Zum ersten Mal in 19 Jahren. Weil der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, laut Internetauftritt stolze Besitzerin von 60.000 Wohnungen und 1500 Gewerbeeinheiten mit einem Grundkapital von 4 Milliarden Euro, 160 Euro fehlten. Das ist die dünne juristische Grundlage für die Kündigung. Jetzt sucht Neitzel nach einem neuen Laden. In Kreuzberg. Es wird nicht leicht sein. »Aber das ist nun mal mein Zuhause hier. Seit 30 Jahren!« Er möchte bleiben. Privat und geschäftlich. Und verkündet trotzig auf seiner wohl letzten Werbeannonce in der Kreuzberger Chronik noch im November: »FAHRRADSTATION BLEIBT!« • |