August 2018 - Ausgabe 201
Kreuzberger
Reinhard Görner Türen sind mein Thema
von Hans W. Korfmann
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Wenn Reinhard Görner über sein Leben erzählt, fällt immer dann, wenn sich in seinem Leben etwas Entscheidendes verändert, der Satz: »Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte.« Aber jedes Mal, wenn er nicht weiterwusste, öffnete sich irgendwo eine Tür. Das war nach dem Abitur so, dann im Studium, wo er es mit Theaterwissenschaften, Philosophie, Sinologie, Amerikanistik, Germanistik probierte, aber es war nie das richtige dabei. Und so war es dann auch, als er 1970 mit seinem Cousin kurz entschlossen nach Berlin zog. Er »war ziemlich von der Rolle« und stand verloren irgendwo am Moritzplatz, im lichtscheuen November, in einem lichtscheuen Hinterhof - es regnete, überall zerbombte Häuser und bröckelnde Fassaden und alte Leute - und fragte sich, was er hier eigentlich sollte.Reinhard Görner stürzte in eine regelrechte Depression, es dauerte ein halbes Jahr, bis er endlich das Buch von Reich in die Finger bekam: »Die Funktion des Orgasmus.« Von da an ging es bergauf. Foto: Privat
Er lebte sich ein in der Stadt, aber wovon der Student aus dem Allgäu seine Miete für die lichtscheue Wohnung bezahlen sollte, war noch unklar. »Ich hatte keine Ahnung.« Aber manchmal kommt, wie Carlos Castaneda einmal schrieb, »so ein Kubikzentimeter Glück vorbei. Und dann musst du ganz schnell zugreifen.« Das Glück war oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen, im Winter 1971 kam es in Form eines Ethnologiestudenten aus London, der Reinhard den gerade erschienenen dritten Band von Castanedas Reise nach Ixtlan in die Hand drückte. Reinhard, der mit dem Bassisten der Kult-Band Amon Düül befreundet gewesen war und sämtliche Drogen ausprobiert hatte, die etwas Licht in den grauen Schulalltag und die lichtscheuen Täler des Allgäu zu bringen versprachen, verschlang das Buch in wenigen Stunden. Und beschloss: Das muss verbreitet werden. Er lieh sich am Ernst-Reuter-Platz eine elektrische Schreibmaschine mit Kugelkopf und begann mit der Übersetzung. Dass der Fischer Verlag bereits die ersten beiden Bände von Castanedas Lehren des Don Juan in unzähligen Auflagen gedruckt und verkauft hatte, wusste er nicht, »und das interessierte dabei auch überhaupt nicht.« Raubdruck war in den Siebzigern eine politisch korrekte Angelegenheit, es ging um die Verbreitung von Ideologien, von vielleicht revolutionärem Gedankengut. Geld spielte keine Rolle, Görner war überzeugt: Dieser weise Indianer, würde die Menschheit in bessere Welten führen. Don Juan öffnete die Türen zu noch verschlossenen Ebenen unseres Denkens, zu einem tieferen und weiteren Bewusstsein. Diese Philosophie führte in neue Räume. Nach sechs Wochen war das Buch druckreif. Reinhard Görner lieh sich bei einer Freundin zweitausend Mark und ließ das Buch beim politisch korrekten Oktoberdruck in Druck gehen. Und dann kam der Tag, als er vor der Mensa seinen Tapeziertisch aufklappte und den dritten Castaneda-Band auslegte: Reise nach Ixtlan. Monate, bevor der Fischer Verlag damit herauskam. Der Erfolg war überwältigend, die Leute rissen ihm das Büchlein aus der Hand, und selbst als Fischer nachlegte, galt die heimliche Übersetzung Görners unter echten Castaneda-Fans als die einzig wahre und gültige. Neben Görners leidenschaftlicher Arbeit – »ich war näher dran an dieser Sache und habe mit Herz und Verstand übersetzt, der Verlag nur mit dem Verstand« – mutete die offizielle Ausgabe kühl und intellektuell an. Womit keiner gerechnet hatte: Die ersten 1000 Examplare waren schnell vergriffen, Görner ließ nachdrucken. Das Geschäft lief gut, insgesamt 10.000 Raubdrucke des dritten Castaneda-Bandes verließen die Druckerei am Paul-Lincke-Ufer, die Bücher lagen bei Kiepert und in anderen bekannten Buchläden der Stadt aus. In gutem Glauben und in Ermangelung eines schlechten Gewissens unterschrieb Görner in den Läden Quittungen und Rechnungen, als sei alles, was er tat, vollkommen legal. Der finanzielle Wohlstand, in den Castaneda den jungen Studenten stürzte, interessierte ihn nur am Rande. Vielleicht war Reinhard Görner seinem Don Juan nicht unähnlich, der einmal gesagt hatte: »Ich kenne nur Wege mit Herz!« Was immer Reinhard Görner tat, tat er aus Überzeugung. Und deshalb machte er sich eines Tages auf den Weg, Castaneda und seinen Don Juan persönlich kennenzulernen. Er wollte den Vorhang aufziehen, Türen öffnen, neue Räume erschließen, für sich und den Rest der Menschheit. Ganz so wie Albert Hofmann, der Entdecker des LSD, es anlässlich seines 100. Geburtstages noch so treffend formuliert hatte: »LSD verschärft unsere Sinne. Es erweitert unser Bewusstsein. Und das Bewusstsein ist das größte Geschenk des Schöpfers an die Menschen.« »Ich war immer noch grenzenlos naiv!«, sagt Reinhard Görner und lächelt. »Und es ist erstaunlich, wie weit man mit so einer Naivität kommen kann!« Görner lehnt sich in sein rotes Sofa zurück, den Arm lässig auf der Lehne, die Beine bequem übereinander geschlagen, hinter dem von silbergrauem Haar umkränzten Kopf das wandfüllende Bild einer noch verschlossenen Blüte, und erzählt, wie er nach San Francisco flog, sich einen Chevrolet mit hölzerner Ladefläche kaufte und Richtung New Mexico fuhr. Auf einer Party trifft er einen Indianerhäuptling, der sagt: »Ich weiß, wo Castaneda steckt: In Irving, an der Uni.« Als Görner im Sekretariat nach Castaneda fragt, verdreht die Blonde nur noch die Augen, so viele Jünger hatten schon nach ihrem Guru gefragt, der vor Jahren im Auditorium Maximum eine Lesung gehalten hatte. Über dem Pinkelbecken stand mit Filzstift geschrieben: »Carlos was here!« Aber Reinhard gab nicht auf, er folgte dem Weg seines Herzens und durchquerte die Sonora Wüste und erreichte 1976, fünf Jahre nach der Lektüre seines ersten Castaneda-Bandes, das beschriebene Yaqui-Village. Das Dorf war so ernüchternd wie Berlin im November, eine Ansammlung armseliger Hütten, eher ein Slum als ein Dorf, und keine Spur von Don Juan, dem weisen Indianer. Wieder einmal stand er da und hatte keine Ahnung, was er machen sollte. »Ich war ein bisschen orientierungslos und stand auf einem Parkplatz« irgendwo am Highway, als ihm ein kiffendes Pärchen aus Kalifornien ein New Age Magazin in die Hand drückte. Das war wieder so ein Kubikzentimeter Glück. Reinhard griff zu und las ein Interview mit Richard Alpert, der gemeinsam mit seinem Harvard-Kollegen Timothy Leary die »psychedelische Revolution« ausgerufen hatte. Der Schlachtruf lautete: turn on, tune in, drop out!« Da zwischen dem Peyote-Kaktus des indianischen Don Juan und dem Lysergsäurediethylamid der amerikanischen LSD-Gurus kein all zu großer Unterschied bestand und beide Drogen ohnehin nur Vehikel auf dem Weg in eine bessere Zukunft waren, gab Reinhard kurz entschlossen die erfolglose Suche nach Don Juan auf, tauschte den geliebten Chevrolet mit der Holzpritsche und den zwei Bullaugen der Rückfenster gegen eine Perlenkette mit tibetischen Silberperlen eher unschätzbaren Wertes und trampte mit einem Abstecher über den Rio Grande nach New York, wo Alpert ihm in Unterhosen die Tür öffnete. Alpert hatte ein wegweisendes und äußerst erfolgreiches Buch veröffentlicht: »Be here now!« Görner, der geheime Herausgeber und Übersetzer Castanedas, fragte, ob Alpert etwas dagegen hätte, wenn er sein Werk ins Deutsche übersetze. »Go ahead!«, antwortete der Amerikaner, und Reinhard war guter Dinge, auch dieses Buch erfolgreich in den deutschen Buchläden zu platzieren. Aber dazu kam es nicht mehr. Zwar verkaufte Görner, zurück in Berlin, auch vom 4. Band der Lehren des Don Juan noch einmal 10.000 Exemplare, aber schon wenig später tauchte in der alternativen Druckerszene das Gerücht auf, dass die Verlage Detektive angeheuert hätten, um den Raubdruckern das Handwerk zu legen. Reinhard Görner ging zu Kiepert in der Hardenbergsraße und fragte, ob die Spitzel auch schon bei ihnen gewesen wären und wonach sie denn gefahndet hätten. Die Antwort lautete: »Nach Castaneda natürlich!« Foto: Privat
Wieder einmal wusste Reinhard Görner nicht, was er machen sollte. Er begann, Zeitungen auszutragen und Taxe zu fahren, so wie alle Berliner Studenten. Das reichte, um Kind und Frau zu ernähren. »Außerdem traf man immer interessante Leute. Für mich hätte das so bleiben können. Aber eines Tages rief Angela an und sagte, sie sei wieder schwanger. Da war klar, dass sich etwas ändern musste. Die Wohnung war einfach viel zu klein, und das Einkommen erst recht. »Ich war komplett orientierungslos. Aber eine Stunde später hörte ich eine Stimme, die sagte: Architekturfotografie. Eine richtige Stimme!« Und schon Castenada sagte: Höre auf die Stimme Deines Herzens! Görner hatte sich schon vom ersten Raubdruck eine ordentliche Fotoausrüstung gekauft. Bereits in der Schule, als er den Fotokurs belegte, spielte er mit dem Gedanken, einmal Kunstfotograf zu werden. Jetzt wollte er anfangen. So wie er sich damals eine elektrische Schreibmaschine geliehen hatte, lieh er sich diesmal eine Großformatkamera und fotografierte zum Freundschaftspreis von Null Mark die Stadthalle in Unna. Aber es dauerte nicht lange, da hatte er den ersten richtigen Auftrag in der Tasche: Anlässlich der Internationalen Bauausstellung 1982 in Berlin sollte er die Oranienstraße fotografieren. Seitdem ist er ganz legal im Geschäft. Er dokumentiert nach dem Fall der Mauer die Veränderungen der Stadt aus dem Hubschrauber, hält die Sanierung des Reichstags auf Filmen fest, durchschreitet die Räume von Museen und Galerien und fotografiert in der Berliner Gemäldegalerie oder im Bode-Museum. Eine internationale Agentur verkauft seine Bilder inzwischen in alle Welt, eine Kunsthändlerin in New York berät ihre auserlesene Kundschaft bei der Einrichtung ihrer Wohnung und empfiehlt besonders gerne Görners Bilder. Drei seiner gemäldeähnlichen Architektur-Fotografien hängen jetzt in der Wohnung von Chelsea Clinton, auch die Biennale kaufte Bilder von Görner an. Es scheint, als wüsste er endlich, was zu tun ist. Foto: Privat
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