April 2018 - Ausgabe 198
Kreuzberger
Ralph Stabbert Hier ist kein Platz für die dunkle Seite der Kunst
von Horst Unsold
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Es war die Zeit, als die Eier in Deutschland nach Fisch zu riechen begannen. Neue Maschinen machten es möglich, die Eingeweide der ausgenommenen Fische schon an Bord zu Fischmehl zu verarbeiten, mit dem anschließend die deutschen Hühner gefüttert wurden. In dem dreieckigen Laderaum ganz vorn im Schiff wurden die Fischmehlsäcke bis unter die Decke gestapelt, »der Bug war randvoll«, und wenn man das »Mannloch« öffnete, die kleine, runde Ladeluke, kam einem ein bestialischer Gestank entgegen. »Und wer musste da rein? Die Aushilfe natürlich!« Die Aushilfe hieß Ralph Stabbert, ging noch zur Schule und wollte eigentlich Künstler und nicht Seemann werden. Trotzdem war er sich für die Arbeit mit den stinkenden Säcken nie zu schade. Außerdem gab es 50 Pfennige Schmutzgeld auf den Tagelohn obendrauf, und eine Schande war es auch nicht, wenn man in Bremerhaven nach Fisch stank. Stabbert war nicht der einzige, der ein bisschen roch. »Wenn die Weser bei Bremen ein bisschen tiefer gewesen wäre, hätte es die Stadt überhaupt nicht gegeben. Alle arbeiteten im Hafen!« Ralph war 16 Jahre alt, die Mutter früh gestorben, der Vater auf See. Es gab vielleicht schönere Jugendjahre als die im Internat, aber Ralph Stabbert ist kein Mensch, der klagt. Er fühlte sich wohl bei Spitzkowskys Fischraumreinigung, hievte die schweren Säcke und die stinkenden Fässer mit den Salzheringen aus den Laderäumen der Logger und spritzte sie anschließend mit dem Schlauch ab. »Das waren nette Leute da im Hafen«, und sie fragten ihn ständig, ob er nicht endlich fest bei Spitzkowsky anfangen wolle. Aber man kann nicht immer nur Schiffe sauber machen und Schiffen nachsehen, die hinausfahren. Man möchte mitfahren. So wie der Vater, der Kapitän. Also heuerte Ralph am 5. April 1969 bei der Handelsmarine an, fuhr mit der MS Seelöwe aufs Meer und blieb ein Jahr auf den Planken, die dem Vater die Welt bedeuteten. Nur nicht dem Sohn. Schon nach einem Jahr erinnerte er sich daran, dass es mehr gab als das Meer mit seinen merkwürdigen Unterwassertieren, und dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte werden wollen. Zurück an Land ging er zum Arbeitsamt und sagte: »Ich möchte Künstler werden«. Hinter dem Schreibtisch kicherten sie, blätterten in den Akten und fanden etwas, das zumindest ein bisschen mit der Welt der Kunst zu tun hatte: Stabbert begann eine Lehre als Schaufensterdekorateur und fuhr fortan mit seinem Chef durch das Hinterland von Wesermünde - »Wieder alles sehr, sehr nass«, aber immerhin keine Fische mehr. Dafür wimmelte es jetzt von Schlangen, Fröschen, Eidechsen. Es war eine schöne Zeit, »es gab jeden Tag was Neues«, jeden Tag einen neuen Ort und einen neuen Laden mit einem neuen Schaufenster. Und er lernte, mit Stoffen und Farben umzugehen, und war damit »schon ein kleines bisschen näher dran an der Kunst.« Wirklich nah kam er der Kunst aber erst 1973, im letzten Jahr der »Sonderbegabtenregelung«, die es Talenten wie ihm ermöglichte, auch ohne Abitur in den Genuss einer künstlerischen Hochschulausbildung zu kommen: Ralph Stabbert, der Gelegenheitsarbeiter bei Spitzkowsky, durfte Grafik und Design studieren. Nebenbei aber hatte er sich schon mit Leo Hüskes angefreundet, einem nicht mehr unbekannten Bildhauer und Aktionskünstler aus Hannover. Es war die Zeit, in der die Fischmehleier sich kaum noch verkaufen ließen und als sich die Kunst von den Galerien auf die Straße hinaus bewegte, um nicht nur ausgewählten Museumsgängern, sondern dem ganzen Volk ihre Botschaften zu überbringen. »Kunst in den Siebzigern war immer politisch«, sagt Stabbert, der mit Willy Brandt und Egon Bahr an einem Tisch saß, nachdem er mit Hüskes anlässlich der Kieler Woche eine fünf Meter hohe Arche zu Wasser gelassen hatte, beladen mit den bedrohten Tierarten dieser Welt. Trotz des ersten Erfolges hängte Stabbert an das Grafikstudium noch einige Jahre Erziehungswissenschaften in Hannover und Berlin an, um sich 1983 sogar mit einem Magistertitel zu kleiden. »Kunst ist ja kein Selbstzweck. Ich wollte mit dem, was ich als Künstler mache, immer auch irgendwie als Lehrer arbeiten.« In Berlin allerdings war der Mann von der Nordseeküste plötzlich dem Kontinentalklima ausgesetzt, und vielleicht war es eine Spur von Heimweh gewesen, die ihn dazu verleitete, seinen ersten Fisch zu gestalten. Es war kein Hering, aber ein kleiner Fisch aus Holz, »vielleicht ein Knurrhahn«, den er für seine kleine Tochter baute. Auch später, als Bühnentechniker an den Staatlichen Bühnen von Berlin, verfolgte ihn die Heimat: Die Kräne, mit denen der »Kulissenschieber« am Schillertheater ganze Häuserwände bewegen musste, waren denen aus Bremerhaven ganz ähnlich. Zur selben Zeit besaß Stabbert in der Friesenstraße Nummer 6 bereits ein kleines Atelier, in dem er Dekorationsgegenstände fürs Theater und andere Schaufenster baute, und in dem er endlich auch Bilder auf Leinwand malte. Die Ölbilder, »das war natürlich die Kunst!«, sagt Stabbert und lächelt nachsichtig. Die Kunst hatte ihren Platz vorne im Schauraum. Hinten, wo ihn niemand sah, arbeitete er an den Dekorationsobjekten. »Das war nur der Broterwerb! Dekorateur ist ein Schimpfwort unter Künstlern.« Doch mit dem Broterwerb hatte der Künstler mehr Erfolg als mit der dunklen Seite der Kunst: Ralph Stabbert baute bald nicht nur Kulissen für die städtischen Bühnen, er baute auch Requisiten für Messen und Veranstaltungen und dekorierte die verschiedensten Schaufensterauslagen mit seinen tierischen Skulpturen. Auch in der Bergmannstraße, im geräumigen Schaufenster des Weing´schäfts, fanden einige seiner Gestalten ein neues Zuhause. Auch wenn seine Fische und Frösche mit dem roten Bordeaux oder dem weißen Silvaner nichts zu tun hatten. Dass der Exilant von der Nordsee sich im Binnenland immer öfter mit dem Meeresleben beschäftigte, war nicht verwunderlich und wahrscheinlich kein Zufall. Ein Zufall aber war es, dass eine Mitarbeiterin aus einem Hospital an dem Schaufenster in der Bergmannstraße vorüberkam, die sich in den Kopf gesetzt hatte, etwas gegen die sterile Atmosphäre des Speisesaals zu unternehmen. Seitdem hängen die Stabberts nicht nur in Schaufenstern, sondern auch in den Speisesälen von Krankenhäusern und in den Mensen von Schulen. Bis an die polnische Grenze sind seine Wesen vorgestoßen, und als er eines Tages den Auftrag erhielt, ein mediterranes Restaurant zu gestalten, schuf er gleich eine ganze Unterwasserwelt. Als die nach Fischmehl stinkenden Eier aus den Regalen verschwunden waren und Bio-Eier die Welt der Supermärkte eroberten, entstand Stabberts legendäre »Fischwerkstatt«. Denn mit dem neuen Jahrtausend war auch jene Zeit angebrochen, in der man Menschen, die sich zuvor in geschlossenen Heimen aufhielten, wieder zurück ans Tageslicht zu holen und in die Gesellschaft zu integrieren versuchte. Da aber Integration ohne Arbeit in dieser Gesellschaft nicht mehr möglich ist, mussten auch für jene, die schon in der ersten Klasse an Mathematik und Rechtschreibung gescheitert oder mit den Anforderungen in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr zurecht gekommen waren, Arbeitsplätze eingerichtet werden. Es war Ralf gewesen, Ralf Möller-Flohr aus dem Internat von Ottersberg bei Bremerhaven, der eines Tages in der kleinen Galerie in der Friesenstraße stand und sagte: »Willst Du nicht künstlerischer Leiter in einer unserer VIA-Werkstätten werden?« Wenig später setzten sich 25 Menschen, die seit Jahren ohne Arbeit gewesen waren, wieder an eine Werkbank, nahmen Werkzeuge zur Hand und begannen damit, Figuren aus Styropor und Holz zu formen. Nach den Anweisungen des Meisters modellierten sie kleine Tierkörper, steckten Gliedmaßen, Rüssel, Ohren, Haare oder Augen in den Rohling, bemalten Fische, Kraken, Schweine, Bienen, Frösche, Eidechsen oder Kühe. Und so unterschiedlich sie in ihrer biologischen Art auch waren, so ähnlich sahen sie sich, so unverkennbar waren sie Teil einer einzigen großen Familie. Denn es gibt nur zwei Regeln in der Fischwerkstatt: »Keine Erdfarben und immer ein Lächeln im Gesicht.« Nicht weil sich ein Lächeln besser verkaufen lässt, sondern »weil für die dunkle, negative Seite der Kunst in diesem Haus kein Platz ist. Weil ich etwas Heiteres in die Welt dieser Menschen bringen wollte!« Stabbert brachte das Heitere nicht nur in die Welt der VIA-Werkstätten. Seit er begann, haben Tausende von Fröschen, Tausende von Haien das Haus verlassen, die heute überall auf der Welt an den unterschiedlichsten Orten ihr Wesen treiben. Es kommen Leute und bestellen eine Biene für ihre Sabine zum Geburtstag, oder ein Schwein, weil jemand jetzt Glück braucht. Sogar Schlangen und Libellen, Kühe und Nilpferde sind in der Werkstatt entstanden, es gibt kaum ein Tier, das nicht schon einen Auftritt hatte in Stabberts komischer Tierwelt. Aber sollten spätere Kunsthistoriker sein Werk dereinst analysieren, dann werden sie von der frühen Dorschphase, der mittleren Haiphase und der späten Froschphase schreiben müssen. Wobei die Haie und die Frösche die erfolgreichsten und regelrechte Kassenschlager geworden sind. Stabberts Konzept war ein Erfolgsrezept. Foto: Holger Groß
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