Kreuzberger Chronik
April 2018 - Ausgabe 198

Geschichten & Geschichte

Von Friedrichshain und Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Wie zwei zerstrittene Geschwister bewerfen sich seit dem Fall der Mauer Kreuzberger und Friedrichshainer auf der Oberbaumbrücke einmal im Jahr mit faulem Obst und Gemüse, um auf die einstigen Unterschiede zwischen dem sozialistischen Bezirk nördlich der Spree und dem kapitalistischen Äquivalent am südlichen Ufer aufmerksam zu machen. Doch so sehr sie sich auch anstrengen: Kaum zwei andere Bezirke, die durch die Bezirksreform 2001 zwangsfusioniert wurden, passen so gut zueinander wie diese beiden. Auch die vierzig Jahre ihrer Trennung durch den Eisernen Vorhang können nicht über die vielen Gemeinsamkeiten der beiden Bezirke hinwegtäuschen.

Sie sind zwei, nur durch die Spree getrennte, Sumpflandschaften im alten Urstromtal, die den Berlinern des 17. Jahrhunderts vor allem als Viehweiden, Acker und Gartenland dienten. Abgesehen von kleinen, lose in der Landschaft verteilten Holzhäusern und Viehschuppen blieb das Gebiet weitgehend unbesiedelt. Selbst 1866, als die alte Zoll- und Stadtmauer Berlins wieder abgetragen wurde, weil sie der Expansion der rasant wachsenden Stadt im Wege stand, grasten innerhalb des steinernen Grenzwalls im Osten der Residenzstadt noch immer die Kühe und die Schafe, während der Westen Berlins längst schon bebaut war.

Dass das heutige Gebiet Friedrichshains und Kreuzbergs so lange Wald und Wiese blieb, lag an seiner geographischen Lage, insbesondere zu Potsdam. Schon im 17. Jahrhundert »hatte sich die Residenzstadt Berlin vor allem nach Westen ausgerichtet, wo der Adel (...) seine Häuser auf dem Weg nach Potsdam und nach Charlottenburg errichtet hatte. Dort waren mit Friedrichswerder, der Dorotheenstadt und der Friedrichstadt systematisch angelegte Vorstädte entstanden.«

Auch als mit der Industrialisierung immer mehr Schornsteine in den Himmel wuchsen und den Ruß der schlesischen Braunkohle in den Himmel pusteten, siedelten sich die vornehmen Herrschaften des 18. Jahrhunderts vorzugsweise im Westen Berlins an, wo die Luft noch rein war, weil der Wind immer aus Westen wehte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt dagegen entstanden in der Nähe der Fabriken »die einfachen Quartiere mit ihren stinkenden Schornsteinen«.

So entwickelte sich der Westen zur besseren Hälfte der Stadt, der Osten hingegen zum Arbeiterviertel. Die aus ländlichen Regionen einwandernden Handwerker bezogen Quartier in der Stralauer Vorstadt und in der Luisenstadt. Gleichzeitig entstanden dort Friedhöfe, Krankenhäuser und Armenhäuser, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jenen Charakter prägten, »den der Berliner Osten für fast anderthalb Jahrhunderte annehmen sollte.«

Natürlich kam es in den Arbeitervierteln zu heftigen Auseinandersetzungen, als der Geist der Französischen Revolution und der Gedanke an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im März 1848 auch die Berliner ergriff. Es ist kein Zufall, wenn sich der Friedhof mit den Gräbern der Märzgefallenen in Friedrichshain befindet: Nicht weit von hier, in der Frankfurter Straße, hatten bei Straßenkämpfen viele junge Revolutionäre ihr Leben gelassen. Noch heute schwingen einige Kreuzberger einmal im Jahr vor dem Brandenburger Tor die Fahne des 18. März, um an die Ideale der Märzrevolution zu erinnern. Friedrichshain und Kreuzberg sind traditionelle Orte des Widerstandes.

Wie ähnlich das Schicksal der beiden Stadtviertel verlief, zeigen auch nüchterne Zahlen. Seit die Zollmauer, die sowohl das heutige Friedrichshain als auch das heutige Kreuzberg durchlief, abgetragen war, setzte in beiden Vierteln der Bauboom ein. Jährlich kamen 10.000 Menschen allein in die Luisenstadt, zwischen 1871 und 1900 stieg die Einwohnerzahl von 187.743 auf 306.512. Ebenso rasant stiegen die Mieten, gleich zwei Mal im Jahr mussten die Bewohner mit Erhöhungen rechnen. »Wenn am 1. April und am 1. Oktober die Mietverträge ausliefen, zogen bis zu 40% der lokalen Bevölkerung um, weil sie sich die vorgegebenen Mieterhöhungen nicht leisten konnten«. Das Leben in den Hinterhöfen des Berliner Ostens war geprägt von »Hunger, Krankheiten, Kinderreichtum, Kriminalität und Mietschulden.«

Lediglich im Südosten, in der Nähe des Tempelhofer Feldes mit seinen fünf Militär-Kasernen, entstanden mit den Offiziersquartieren vornehmere Wohnviertel mit Bedienstetenwohnungen in Seitenflügeln, Concierge im Vorderhaus und Dienstboteneingängen über den Hof. Und auch, wenn die Fassaden und die großen Wohnungen der Vorderhäuser entlang des Luisenstädtischen Kanals und der Prachtstraßen in den goldenen Zwanzigern durchaus Großzügigkeit widerspiegelten, belegten die Zahlen schon damals die Enge der am dichtesten besiedelten Wohnbezirke Berlins: Als 1920 aus 8 Städten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken Groß-Berlin entstand, lebten im 5. Bezirk, in Friedrichshain, bereits 326.000 Einwohner auf knapp 1000 Hektar. Im etwa gleich großen 6. Bezirk, in Kreuzberg, waren es sogar 366.000. Und noch 1925 verdiente sowohl in Friedrichshain als auch in Kreuzberg etwa die Hälfte der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt als Arbeiter und Hausgewerbetreibende.

Selbst im 2. Weltkrieg teilten die Bezirke das gleiche Schicksal und verloren fast die Hälfte ihrer Einwohner. Heute, fast 100 Jahre, nachdem sie ihre eher ländlich anmutenden Namen erhielten, wohnen in Kreuzberg 150.000, im Nachbarbezirk 120.000 Einwohner. •


Foto: Postkarte
Die Brücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, um 1940

Literaturnachweis: Hanno Hochmuth, »Kiezgeschichte - Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin«, Wallstein Verlag 2017, ISBN 978-3-8353-3092-4


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