Kreuzberger Chronik
April 2018 - Ausgabe 198

Essen, Trinken, Rauchen

Im Nepalhaus


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von Michael Unfried

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Nepal ist ein armes Land. Auf kleinen, dem Berg mühsam abgetrotzten Terrassen wachsen Reis und Gemüse, der Winter ist lang, und die Tiere haben nur wenige Wochen lang Milch, um ihren Nachwuchs großzuziehen. Üppige Gerichte wie in Indien und Thailand gibt es hier oben nicht, man begnügt sich mit dem wenigen, das die Natur hergibt. Selbst das Nationalgericht ist von rührender Bescheidenheit: Es heißt Dal Bhat und besteht aus pürierten, schwarzen Linsen mit Gemüse und Reis.

Das Nepalhaus ist ein armes, aber ein ehrliches Haus an der lauten Gneisenaustraße. Touristen stolpern selten das kleine Restaurant, es sind eher die Studenten und die Indienreisenden der Siebzigerjahre, die im Nepalhaus eine Mahlzeit einnehmen. Der Raum mit seinen hölzernen Tischen und seinen weißen Tischdecken im Halbdunkel ist so bescheiden eingerichtet, dass er auch irgendwo in den Bergen des Himalaya liegen könnte. Ebenso wie die zerknickte und schon etwas schmierige Speisekarte, auf der neben dem berühmten Linsenpüree die spätestens seit Michael Endes Roman nicht minder berühmten Momos stehen: kleine, nussgroße nepalesische Teigtaschen mit Füllungen aus Mutton, Lammfleisch und Gemüse.

Selbst die alte Buddhafigur, deren Gold in der Gneisenaustraße nie so strahlen wird wie unter der Sonne Nepals, steht nicht zur Zierde oder Dekoration im Raum. Sie hat einen tieferen Sinn, und es kann vorkommen, dass die Studenten längst wissen, was sie essen möchten, und dennoch lange warten müssen, da der Wirt hinter dem Tresen gerade in Meditation versunken ist, Yoga-Übungen zur Stärkung der Halsmuskulatur vollführt, Mantras vor sich hinmurmelt oder in seinen Zahnlücken kleine, schnalzende Zischlaute produziert.

Alles in diesem Nepalhaus ist echt: der Duft nach Reis, Gewürzen und Räucherstäbchen; der Blick in die winzige Küche, in der ein wendiger Koch in Windeseile das Gemüse zerkleinert; das zurückhaltende Lächeln des Wirts, der mit einer angedeuteten Verbeugung den Gästen das Essen an den Tisch bringt; selbst die Gäste könnten manchmal noch Wanderer in den Bergen des Himalaya sein, die schon so lange unterwegs sind, dass sie längst keine kulinarischen Highlights mehr erwarten, sondern mit einer Portion duftendem Reis und einer dampfenden, duftenden Soße für ein paar Rupien schon sehr, sehr glücklich sind.

Das Nepalhaus ist einer der letzten Schlupfwinkel in der Nähe der Bergmannstraße, in dem der Kreuzberger noch eine Mahlzeit einnehmen kann, ohne sich gleich wie ein Tourist zu fühlen. Es ist eines der letzten Restaurants, in das man kommt, um zu Essen – und nicht, um Essen zu gehen. •

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