September 2017 - Ausgabe 192
Reportagen, Gespräche, Interviews
Die Traumstadt von Hans W. Korfmann |
Sie träumten von der größten Passivhaussiedlung der Welt. Einem Dorf in der Stadt mit netten Leuten, Kindern und Omis und einem kleinen Hotel. Es könnte anders kommen. 1973 zeigten die deutschen Kinos die Vision einer Hippiestadt im fernen Indien. Der Film Traumstadt entwarf das Bild einer perfekten Gesellschaft. Nicht nur in Indien, auch im Kreuzberg der Siebzigerjahre hatte man Visionen und träumte vom gemeinsamen Wohnen, Leben und Arbeiten, von einer großen Kreuzberger Wohngemeinschaft. Vierzig Jahre später, als es keine großen Wohnungen mehr zu mieten oder zu besetzen gab, entwickelte sich die Idee der Baugenossenschaften, die sich gemeinsam ein Haus bauten. So auch im Möckernkiez. Drei Jahre lang träumte man von einem Dorf aus mehreren Häusern am Parkrand, in dem alle glücklich miteinander leben sollten. Es war die Idee einer kleinen Traumstadt, in der Nachwuchs, Eltern, Großeltern, Wellensittich, Hamster, Katzen und Hunde zusammen alt werden konnten wie einst auf dem Bauernhof. Das Ganze sollte günstig, ökologisch und supersozial sein. Ein echtes Alternativprojekt. Die SPD stieg ein, die Banken stiegen ein, die Baufirmen stiegen ein, und natürlich die zukünftigen Genossenschaftler. Inzwischen sind viele von ihnen wieder ausgestiegen. Nicht, ohne Verluste gemacht zu haben. Neben dem Traum vom Dorf in der Stadt gab es noch einen älteren Traum: Den Traum von der Wildnis. Dreißig Jahre lang kämpften Norbert Rheinlaender und gleich gesinnte alternative Stadtplaner gegen eine Autobahn und für einen großen Naturpark. Sie forderten den Erhalt dieses Nachkriegs-Naturdenkmals, das durch die Bombardierung des Anhalter Bahnhofs am Gleisdreieck entstanden war, und organisierten Führungen über das von der Natur zurück gewonnene, 60 Hektar große Areal, auf dem einst ein imponierendes Geflecht aus stählernen Geleisen über 56 Brücken zum größten Kopfbahnhof Europas führte. Tatsächlich gelang es den Naturfreunden, den größten Teil des Geländes vor den gierigen Investoren der Post-DDR-Ära zu retten. Nur an der Nord- und der Westseite des Geländes sollte es zu einer Randbebauung kommen. Zwar haben Landschaftsarchitekten die Wildnis inzwischen in einen Designerpark verwandelt, der seines gleichen nirgends auf der Welt zu suchen bräuchte, doch ungeachtet dessen erfreut sich die große Grünfläche unter jungen Kreuzbergern großer Beliebtheit. Anders als auf dem Tempelhofer Feld, wo die Stadt ihren Besitzanspruch auf den potentiellen Baugrund unterstreicht, indem sie abends zusperrt, sitzen im Gleisdreieckpark junge Berlinerinnen und Berliner bis spät in die Nacht im Kreis auf den Wiesen bei Gitarre und Ghettoblaster und tanzen so wie einst die Indienreisenden zur Gitarre von Bob Dylan. Mit dieser Idylle könnte es bald vorbei sein. Ende 2018 sollen die Häuser an der Yorckstraße bezugsfertig sein. Zwei Jahre lang standen die Maschinen auf der Baustelle still, es sah aus, als könnte vielleicht noch einmal Gras über die ganze Sache wachsen, doch nun ist Rettung von der Nordseeküste eingetroffen. Das Hamburger Bauunternehmen Otto Wulff hat seine Baukräne an der Yorckstraße aufgestellt, um da weiter zu machen, wo die anderen kapitulierten. Im Gegenzug hat der Hamburger 1700 Quadratmeter genossenschaftlichen Bodens erhalten, um ein Hotel darauf zu bauen. Die Gäste in den »mindestens 120 Zimmern« könnten auf ihrer bezahlten Nachtruhe bestehen und ab 22 Uhr die jugendlichen Kreise auf der Wiese mit Polizeistreifen stören. Ebenso wie die Besitzer der neuen Wohnungen mit Blick auf den Park. So wie es auch Bewohner der neuen Eigentumswohnungen im Viktoriaquartier gerne tun, wenn sich in warmen Sommernächten am so genannten Schinkel-Denkmal auf dem Gipfel des Kreuzbergs die Kreuzberger Jugend trifft. Wulff sieht für viele Genossen wie ein Retter aus. Doch Wulff ist in erster Linie ein Unternehmen. Schon vor fünf Jahren kaufte sich der Mann von der Nordseeküste ein Stück Berliner Binnenland und setzte »The White«, ein weißes Luxusappartementhaus, an das von roten Backsteingebäuden gesäumte Spreeufer. Die Quadratmeterpreise hatten wenig mit Berlin zu tun und lagen schon auf der Schattenseite bei 2300 Euro, während der Blick nach Süden mit über 6000 Euro Preise erzielte, als läge die Spree am Golf von Neapel. »Wir glauben«, sagte Wulff der Berliner Zeitung, »an die Zukunft und das Potenzial des Berliner Immobilienmarktes.« Es hätte die Skeptiker unter den Möckernkiez-Genossen optimistischer gestimmt, wenn er »an die Zukunft der Berliner« geglaubt hätte. Die kleine Traumstadt ist groß geworden. Sie hat sich verselb-ständigt. Schon müssen die Eigentümer auf großen Plakaten am Straßenrand vor dem schmucklosen Beton um »nette Nachbarn« werben. Auch wenn von offizieller Seite gern betont wird, dass 93% der Wohnungen bereits vergeben seien und die Nachfrage nach den restlichen Quadratmetern groß. Das wäre durchaus nachvollziehbar, denn obwohl von der alten Traumstadt nicht viel geblieben ist: Für einen Wohnungssuchenden in Berlin ist das Mietangebot noch immer attraktiv - vorausgesetzt, er hat Geld genug übrig, um einen Teil davon im Genossenschaftssafe zu parken. Es war einmal der Traum von einer heilen Welt am Gleisdreieck, in der sich alle vertragen. Mit Schrebergärten am Rand, Kinderspielplätzen, einigen hübschen neuen Häusern an der Flottwellstraße und dem Möckernkiez an der Möckernstraße. Doch der Traum ist aus. Erst kürzlich haben Gentrifizierungsgegner »einen ganzen Straßenzug am Rand des Parks verwüstet«, wie die SPD schreibt. Auch wenn es nur Pkws waren, die brannten. Sie standen vor den neuen Häusern in der Flottwellstraße. Auch Johannes Schaafs Film Traumstadt endet, wie Helmut Karasek es seinerzeit im Spiegel formulierte, damit, dass die große Enttäuschung der Träumer »eine Stadt, ja eine Landschaft in Schutt und Asche zusammensinken läßt.« • |