Kreuzberger Chronik
September 2017 - Ausgabe 192

Kanzlei Hilfreich

Hilfreich und Gehricke


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von Kajo Frings

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hEs gab eine Sorte Berliner, die Hilfreich schnell in Rage versetzte: Radfahrer mittleren Alters. Sie konnten jedoch auch jünger sein.


Die Fälle, mit denen der emeritierte Herr Professor Gehricke den Rechtsanwalt Hilfreich aufsuchte oder heimsuchte, waren immer etwas Besonderes. Mal eine Untätigkeitsklage gegen DHL-Fahrer, die niemals in seine Dachgeschosswohnung kamen, mal ein Antrag gegen die Nachbarin, die ihre Unterwäsche auf dem Balkon zum Trocknen aufhing, wegen öffentlicher Erregung ohne Ärgernis, dann die Vaterschaftsanfechtungsklage, die erhoben werden sollte, als eben jene Nachbarin im dritten Monat schwanger ihn des Beischlafes bezichtigte. Jens klärte auf: »Einmal beigeschlafen, und schon ist es mit der Unschuldsvermutung zu Ende. Das kommt in jedem Alter vor. Denken Sie an Abraham, Chaplin oder Dieter Hallervorden. Warten Sie doch die Geburt ab.« Und tatsächlich: Herr Gehricke entschied sich, seine Zweifel zugunsten einer unverhofften Vorfreude einzudämmen. Als ihm 6 Monate später die Hebamme dieses kleine Lebewesen mit dem von Presswehen zerknautschten Gesicht entgegenhielt, war er sich sicher: Ähnlicher kann ein Kind seinem Erzeuger nicht sein.

Und der alte Mann wurde wieder jung. Er schob Liane im Kinderwagen, spielte mit ihr am Brunnen am Marheinekeplatz und beauftragte Hilfreich nahezu täglich mit Unterlassungsklagen gegen jeden, der ihn freundlich mit »Opa« und nicht mit »junger Vater« begrüßte. Irgendwann, Liane war etwa zweieinhalb Jahre alt, kam der Professor eines Mittags mit dem Kind in Jens´ Praxis, außer sich vor Zorn, mit hochrotem Gesicht, in dem sich rechts und links deutlich die Spuren von vier Fingern und einem Daumen abgebildet hatten.

»Körperverletzung; schwere Körperverletzung, öffentliche Beleidigung!« schrie er. »Ich will Schmerzensgeld!« Jens holte seine Geheimwaffe, einen uralten Calvados, aus dem Schreibtisch und schenkte ein: »Der Reihe nach, aber langsam.«

»Liane ist begabt. Sie konnte mit 4 Monaten krabbeln, mit 12 gehen, mit 18 Monaten Ski fahren und mit 20 Fahrrad fahren. Nur bremsen noch nicht. Und heute wollten wir üben. In der Hasenheide. Also im unteren Bereich. Sie steht also Richtung Jahnstraße. Ich schau noch, dass die Ampel für die Autos auf Rot steht, dann ruf ich: »Los!« Sie fährt auch schön los, aber sie bremst nicht. Die Ampel springt auf Grün, und dieser Autofahrer fährt einfach los. Liane rollt auf die Straße, das Auto bremst und kommt kurz vor dem Kind zu stehen. Dann springt der Fahrer raus und gibt mir rechts und links eine Backpfeife.«

Hilfreich hatte gut zugehört. »Ja, jetzt sagen Sie doch was!«, rief der Herr Professor. Hilfreich sagte: »Wenn ich der Autofahrer gewesen wäre und hätte wegen Ihres Leichtsinns beinahe ein kleines Kind totgefahren, ich glaube, ich hätte Ihnen auch eine gescheuert. Und jetzt gehen Sie mit Liane mal Eis essen, das ist ungefährlicher.« •


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