Kreuzberger Chronik
Oktober 2017 - Ausgabe 193

Kreuzberger
Pit Mischke

Deshalb machen wir Musik!


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Gross

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Pit Mischke ist ein klassischer Kreuzberger. 1974 wirft der gescheiterte Kriegsdienstverweigerer seinen Wehrpass weg und steigt aus Angst vor den Feldjägern mit der Gitarre unter dem Arm in einen alten Mercedes, den sie alle paar Meter wieder anschieben müssen. Die jungen Leute aus Dortmund und Gelsenkirchen kommen bei einem »halbseidenen« Bekannten in Alt-Moabit in einer 200- Quadratmeterwohnung mit roten Brokattapeten an den Wänden unter. Später erfinden sie den »Verein zur Erforschung sozialer Wohnkultur«, um mit 13 Erwachsenen und 12 Jugendlichen eine Kommune zu gründen. Sie studieren, verreisen, demonstrieren und verbringen die Nächte in Kreuzberger Kneipen. Die Geschichte von Pit Mischke ist die der 70er-Jahre-Immigranten aus Westdeutschland, eine jener Herr-Lehmann-Biographien, die Kreuzberg prägten. Es scheint, als hätte es für die jungen Männer der Nachkriegsgeneration, die in den Siebzigern von einem anderen Leben zu träumen begannen, nur ein Ziel gegeben: Westberlin. So auch für Pit Mischke.

Doch wenn Pit Geld gehabt hätte, damals, 1974, als sie in den alten Mercedes stiegen, dann wäre er nach London gefahren. »Ich wäre an den Piccadilly gezogen, das war der Mittelpunkt der Welt.« Das waren die Beatles und die Stones. Das war Brian Jones. In Gelsenkirchen gab es diese weißen Jeans nicht, mit denen Brian Jones auf der Bühne stand. Auch in Essen nicht, in Dortmund nicht, in Bochum nicht. Pit suchte überall nach diesen verdammten weißen Jeans, nicht einmal in Berlin hätte er die bekommen. »Aber in London, in der Carnaby Street. Garantiert.«

Damals, als Pit und seine Freunde gerade begannen, nach den Mädchen zu schauen, waren die Schlaghosen so wichtig wie die Gitarren. Und als Pit mit seiner Band die ersten Erfolge einspielte, musste die Mutter sich an die Nähmaschine setzen und bunte Rüschenhemden nähen. Dazu trug Pit einen grünen Glencheck-Anzug und rote Schuhe aus Straußenleder. Als der Vater, Seemann, Stahlarbeiter, überzeugter Sozialdemokrat, seinen Sohn so sah, sagte er: »Du siehst aus wie ein Papagei!« Aber so ein Hemd wollte er dann auch haben.

Der Vater verzieh ihm die Schuhe. Schließlich war er es gewesen, der dem Sohn die Gitarre und - weil er ahnte, dass Peter die gleich wieder in die Ecke stellen und für immer vergessen würde - gleich ein paar Stunden Musikunterricht dazu schenkte. Drei Jahre lang musste er »mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter eine Stunde lang bis nach Wanne-Eickel fahren«, wo der Gitarrenlehrer wartete. Dort saß der Elfjährige dann auf einem Stuhl und lernte klassische Gitarre und Notenlesen: Mozart, Beethoven, Haydn. Es dauerte aber nicht lange, da schob der Lehrer seine Schüler auf die Bühne. Pit stand seinem ersten großen Publikum gegenüber.

Natürlich hörte Pit zuhause nicht Mozart, sondern die Stones und die Beatles, die gerade dabei waren, die Welt zu verändern. Und natürlich stöpselte auch Pit das Kabel seiner E-Gitarre in ein hölzernes Loewe-Opta-Radio und spielte mit der Schulband zum »Jugendtanz« in den Freizeitzentren, deren Wände komplett schwarz lackiert waren, damit, wenn jemand das Licht ausschaltete - was immer irgendwann im Laufe dieser Abende passierte - besser geknutscht werden konnte. »Dann sah man nur noch dieses magische Auge aufleuchten, die grüne Lampe am Radioapparat, neben der gelben Skala für die Senderfrequenzen und den roten Punkten glühender Zigaretten.«

Irgendwann stand er mit seinen Haydns auf der Bahnhofstraße in Gelsenkirchen, gleich vor dem Warenhaus Karstadt. »Es gab ja schon die Beethovens in England und die Mozarts in Deutschland, also blieb uns noch Haydn!« Sie hatten bereits ihr Publikum um sich versammelt, als jemand plötzlich den Stecker zog und die Gitarren zum Verstummen brachte. Die Geschäftsleitung war der Meinung, dass die Musik sich negativ auf das Kaufverhalten der Kundschaft auswirkte.

So wurden sie »ein bisschen bekannt« in und um Gelsenkirchen herum und konnten sich ein Taschengeld verdienen. Viel war es nicht, denn noch immer kreiste unter den Musikern das Gerücht, dass man ab einem Eintrittspreis von einer Mark Steuern zahlen müsse, »also lag der Eintrittspreis traditionell bei 99 Pfennigen.«

Foto: Privat
Natürlich wusste noch niemand, wohin die musikalische Reise der jungen Musiker einmal gehen würde. »Als ich die Gitarre in die Hand nahm, war der Rock´n´Roll schon weg und der Beat noch nicht da.« Aber es dauerte nicht lange, und dann war der Beat da. Und der Beat blieb. Bis heute spielt Pit Mischke die Hits der Sechzigerjahre, die schon damals mit Texten wie »I want to hold your hand« nicht unbedingt revolutionär klangen - zumindest, wenn man sie ins Deutsche übersetzte. Aber diese Musik brachte die Leute zum Tanzen. »Man macht den Leuten gute Laune.«

Aber Pit wäre kein klassischer Kreuzberger, wenn er nur Tanzmusik hätte machen wollen. Natürlich wollte auch er die Revolution. Schließlich hatte man auch in Gelsenkirchen »die gleichen Probleme mit den langen Haaren wie die Hippies in San Francisco«. Trotzdem war Gelsenkirchen »weltoffen. Gelsenkirchen ist ja nicht nur Schalke«, es ist das Herz des Ruhrpotts, und der Ruhrpott war damals ein einziges Arbeiterviertel, aus dem die Stahlkrise und die Kohlekrise eine Hochburg der Gewerkschaftler gemacht hatte.

Kaum war er in Berlin, arbeitete er als Drucker und Schriftsetzer bei Emu-Druck, gestaltete Plakate und druckte an einer alten Heidelberger Flugblätter für Demonstrationen und Veranstaltungen der Maoisten. Es gab viel zu tun, »damals bist du aus der U-Bahn gestiegen und hattest gleich vier Flugblätter in der Hand.« Neben diesen mehr oder weniger politischen Druckarbeiten begann Pit an der FU mit dem Studium der Publizistik und Sinologie. Um den Sozialismus vor Ort zu studieren, fuhren sie, kaum war die Viererbande verhaftet, mit der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Peking, 10.000 Kilometer für 350 Mark. Dank des sozialistischen Studentenausweises aus Ost-Berlin brauchten sie für die Rückreise nur noch 220 zu bezahlen.

»Wir waren ständig unterwegs, ständig wurden wir hinter Rudow am Grenzzaun abgeholt und mit dem Kleinbus zum Flughafen Schönefeld transportiert.« Sie flogen nach Thailand, Burma, Singapur, waren in Dubrovnik an der Adria und träumten vom Rätesozialismus. Das Geld für die Reisen verdiente Pit jedoch nicht mehr als Musiker, die Gitarre holte er nur noch auf Parties heraus. Er spielte auch keine Beatles und keinen Schubert, sondern politisch korrekte Lieder von Degenhardt und Hannes Wader. Geld verdiente er jetzt als Grafiker.

Dabei war er so erfolgreich, dass er 1979 in Köln bei Eigelstein Records einsteigen konnte, gerade rechtzeitig, um bei Wolfgang Niedeckens »BAP rockt andere Kölsche Leeder« mitzumischen. »Wir haben sogar die Dreigroschenoper aufgenommen, fast jede Platte, die wir damals produzierten, bekam irgendeinen Preis!« In diesem Plattenverlag tauchte eines Tages auch Renate auf. Ein Jahr später trafen sie sich in Singapur wieder. Sie haben sich nie wieder getrennt.

Foto: Rudi Berr
Auch dem Zeichentisch ist Pit Mischke bis heute treu geblieben. Schon in Gelsenkirchen hatte er zu zeichnen begonnen. Wenn er nicht gerade Gitarre spielte, sich nicht beim Lehrlingskampf oder bei der ASTA für die Revolution engagierte oder im Schwimmbad beim Aegir-Gelsenkirchen für die Olympiade trainierte - »ich musste vier mal die Woche ins Wasser!«- dann saß er am Schreibtisch. Irgendwann hatte er sogar ein Grafiker-Diplom in der Tasche. Und in Berlin ein eigenes Atelier irgendwo in einem lichtscheuen Hinterhof, Oranien- Ecke Adalbertstraße. Manchmal hing »die halbe Straße mit meinen Plakaten für Konzerte, Veranstaltungen oder Ausstellungen voll«. Er zeichnete Cartoons für die zitty, brachte mit Wössner ein Buch zum Kirchentag heraus, arbeitete mit Günter Zint und dem Verlag Rote Fahne. »Ich lebte in mindestens fünf Parallelwelten!«

Auch das Plakat für das Fest auf dem Mariannenplatz machte seit 1982 der Grafiker aus Gelsenkirchen, an dem die Kunstamtsleiterin Tebbe einen derartigen Narren gefressen hatte, dass sie ihm eines Tages die künstlerische Leitung des Festes übertrug. »Du machst dieses Jahr das Programm!« Pit suchte nach einem Highlight und erinnerte sich an einen alten Rock´n´Roller, der früher in der Reichenberger Straße gewohnt und öfter in der FU gespielt hatte, einen stadtbekannten Rocker aus Wiesbaden, der die Beatles kannte und der seit Jahren nicht mehr aufgetreten war. 1989 holte Pit den vom Zucker dick gewordenen Gitarristen Jacky Spelter mit seiner Fender, seinen Koteletten und seinem zigeunerstolzen Menjoubärtchen zurück auf die Bühne, und als er in die Seiten griff, begann Kreuzberg zu toben. Jacky war so glücklich, dass er nach dem Konzert zu Pit ging und sagte: »Du wirst mein neuer Sologitarrist!«

Zusammen mit Jacky und Franz Szewczyk am Saxophon
Die Band nannte sich Jacky and his Strangers. Jacky spielte noch den alten Rock´n´Roll aus den Fünfzigern, »ich musste noch mal ganz von vorn anfangen. Wir saßen stundenlang bei ihm auf dem Sofa und übten!«, als wäre er noch in Wanne-Eickel. »Und dann zogen wir durch Neukölln, ich hab da Wohnungen und Kneipen und Leute kennen gelernt, das hätte ich nicht für möglich gehalten!«

So stand der Spezialist für Klassik plötzlich mit einem Spezialisten für Rock´n´Roll auf der Bühne, und dort, wo auf den Fotografien neben Jacky Spelter einst John Lennon stand oder Chuck Berry oder der Bundeskanzler Helmut Schmidt, stand jetzt Pit Mischke. 13 Jahre blieben sie zusammen, auch bei seinem letzten Auftritt im Huxleys am 16. August 2003, dem Todestag seines Idols Elvis, stand Pit neben dem dicken Mann mit der schmierigen Gitarre. »Ich hab immer gesagt, er soll die mal putzen, der Schweiß war überall, aber er sagte jedesmal: Das ist Patina!« Jetzt hängt Jackys legendäre Fender-Jazzmaster gut geputzt im Deutschen Historischen Museum, ein Exempel amerikanischer Nachkriegskultur in Deutschland. Sie soll eine der ersten E-Gitarren überhaupt gewesen sein.

Eine alte Gibson hat Pit ihm eines Tages abgekauft. Er spielt sie heute noch manchmal, wenn er mit Hardbeat Five auftritt, dieser Formation, die sich seit 16 Jahren der Tanzmusik der Sechzigerjahre verschrieben hat. Karl Konermann, der Leiter des Jugendclubs in der Villa Kreuzberg, der früher bei den Kaspischen Ärschen getrommelt hatte, wollte gemeinsam mit Peter Müller eine Sixties-Band gründen und fragte Pit, ob er mitmache.

Wenig später standen sie im Blauen Affen auf der Bühne, und weil es so gut lief, wurde Pit wieder mal zum Programmdirektor und organisierte Tanzabende in der Kneipe am Hermannplatz. Natürlich hörten die Gäste neben Ulli und den grauen Zellen oder Lüül nun auch die Tanzmusik von Hard Beat Five. »Es dauerte nicht lange, da hatten wir eine kleine Fangemeinde. Es gab ja nur eine Hand voll Bands in Berlin, Route 66, Rubbersoul oder die Sputniks aus Ostberlin, die diese Sechzigerjahremucke noch spielten.«

Diese Hand voll Bands hat ihre Fans. Sie sind nicht mehr 17, sondern 70. Aber wenn Pit und die anderen die Bühne betreten und ihre Gitarren stimmen, dann ist es wieder, als wären sie siebzehn. »Und deshalb macht das Spaß. Man verbreitet gute Laune. Darum geht es. Deshalb machen wir Musik!« •




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