Kreuzberger Chronik
November 2017 - Ausgabe 194

Reportagen, Gespräche, Interviews

Wohnen oder Arbeiten


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von Michael Unfried

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Fast unbemerkt wechselte 2016 das letzte große Grundstück an der Fidicinstraße seinen Besitzer: die historische Bockbrauerei. Der Investor möchte Wohnungen bauen, der Bezirk nicht.

Als Dr. Leibfried, Chef der Bauwert GmbH und Eigentümer des Geländes der Bockbier-Brauerei an der Fidicinstraße, an der Seite seiner blonden Sekretärin auf der Bürgerversammlung im Wasserturm erschien, begleiteten ihn die misstrauischen Blicke sämtlicher Kreuzberger. Das Pärchen, das gekommen war, um mit den Einheimischen zu reden, erhielt nur eine kurze Redezeit, doch hinterließ der Mann einen bleibenden Eindruck und unvergessliche Sätze wie diese: »Wir wollen nur das Beste für Alle!« Oder: »Natürlich haben wir vor, Wohnungen zu bauen, aber wir werden nicht mit massiver Gewalt versuchen, die einzelnen Mieter da herauszudrängen.« Oder: »Wir sind nicht die Bösen, die versuchen, immer das Maximum herauszuholen. Wir werden denjenigen, die jetzt auf dem Gelände sind, natürlich neue Mietverträge anbieten.«

Zwei Jahre später sehen sich alle wieder. In einer öffentlichen Sitzung im ehemaligen Rathaus Kreuzberg stellt der Investor der Bezirksverordnetenversammlung seine neuesten Pläne vor. Auch dieses Mal kommt er nicht allein. Und wieder trägt die Frau an seiner Seite ein tailliertes Kostüm und die Haare so hoch toupiert, wie die Kreuzberger sie nur noch vom Denver-Clan kennen. Geschickt klappt sie den Taschencomputer auf, während ihr Chef den schwarzen Aktenkoffer auf den Tisch stellt. Sie zupft ihr Kleid zurecht, schlägt die Beine übereinander und sagt den ganzen Abend kaum mehr ein Wort zu ihrem Nachbarn.

Ebenso wenig wie die zwei schwarz gekleideten Herren, die in der unmittelbaren Umgebung des Herrn Dr. Leibfried Platz genommen haben. Nur wer genau hinsieht bemerkt, dass sie irgendwie dazu gehören zur Bauwert GmbH. Sie alle reden kaum miteinander, auch sonst scheint keiner der politischen Vertreter und erst recht keiner aus dem Kreuzberger Auditorium Interesse daran zu haben, mit dem Investor noch ein wenig zu plaudern, bevor es ernst wird. Ein wenig einsam wirkt der Mann, der seit 2015 insgesamt 13.000 Quadratmeter zwischen Fidicinstraße und Jüterboger Straße sein Eigen nennt.

Lediglich der Baustadtrat, ein junger Mann namens Schmidt, kommt kurz an seinen Tisch und reicht ihm die Hand. Es ist eine höfliche Geste der Begrüßung, ohne jede Unterwürfigkeit oder Überheblichkeit, eher sportlich fair als politisch korrekt. Beide, der Politiker wie der Investor, wissen, dass sie gleich in den Ring müssen. Und dass sie vor einem Publikum auftreten, das nur darauf wartet, dass einer von ihnen einen Fehler macht. Und dass sie zumindest einen gemeinsamen Gegner haben: Bürger, die ihnen nicht trauen.

Dann kommt der Gong, der Stadtrat erläutert, was bisher geschah: Der Investor, der das Grundstück vor zwei Jahren erwarb, habe zunächst Wohnungen bauen wollen. Der Bezirk allerdings habe die Brauerei als Gewerbestandort erhalten wollen. Um einen Konsens zu erreichen, habe man ein städteplanerisches Gutachten zur Bebauung der Brauerei in Auftrag gegeben, dessen Resultat heute vorgestellt werden solle. Auf der anderen Seite habe auch der Investor die Zeit genutzt, sein Konzept zu überarbeiten. »Herr Dr. Leibfried: Sie haben das Wort!«

»Vielen Dank, Herr Schmidt«, sagt Herr Dr. Leibfried und blickt auf den kleinen Bildschirm mit der bunten Skizze der Neubauten, die er gleich an die Wand projizieren wird, wo die Kreuzberger sie vermutlich gleich wieder in Stücke reißen werden. Mit ruhiger Stimme erzählt er, dass der Senat zum Zeitpunkt des Kaufes signalisiert habe, dass er dort Wohnungen wünsche. »Doch dann gab es Probleme«, der Bezirk sperrte sich, und das Landesdenkmalamt stellte die von den Nazis als Waffenschmiede genutzten Keller der Brauerei plötzlich unter Denkmalschutz. »Aber Sie werden es nicht glauben: Auch Bauträger sind lernfähig!«, sagt der Investor. Ohne die Spur eines Lächelns.

Man habe umgedacht und wolle nun auf dem Gelände zu 50% neue Gewerberäume schaffen und nur zu 50% Wohnungen. Auch das Problem mit den Nazi-Kellern »haben wir uns zu Herzen genommen!« Man wäre bereit, Teile des Hofes um fünf Meter abzusenken, so dass die betroffenen Keller als Gedenkstätte frei zugänglich wären.

Der Investor scheint mit seinen Ideen allen Beteiligten entgegenkommen zu wollen. Vielleicht würden ihm die Zuhörer sogar glauben, wenn er ein bisschen mehr Charisma, ein bisschen mehr Begeisterung für die Sache zeigen würde. Aber Dr. Leibfried referiert ausschließlich in sachlichem, monotonem Ton. Es scheint, als sei ihm die Begeisterung abhanden gekommen. Es hört sich an, als glaube er selbst nicht mehr an das, was er da vorstellt.

»Und wir wollen auch die Bestandsmieter erhalten!«, sagt er nun, das Jugendarchiv soll neue Räume bekommen, das Thikwa-Theater, sogar das Mühlenhauptmuseum könnte die Straßenseite wechseln und ins Brauereigelände ziehen. Ja, und sonst ist hier ja alles leer!«, sagt der Investor.

»Aber erst jetzt! Weil Sie alle schon rausgeschmissen haben!«

Das ist der erste Zwischenruf. Er kommt von der Empore, wo einige Kreuzberger Platz genommen haben, die unten im Saal keinen Stuhl mehr fanden. Leibfried fährt fort mit seiner Litanei, versichert, niemanden zum Ausziehen gedrängt zu haben, und allen Altmietern neue Verträge anzubieten.

»Aber zu welchen Konditionen!« - ein zweiter Zwischenruf von den Zuschauerrängen auf der Galerie. Noch einmal sagt der Investor, was er schon vor zwei Jahren im Wasserturm gesagt hat, und was er an diesem Abend noch mehrmals beteuern wird: »Wir sind nicht die Bösen, die ein Maximum an Gewinn herausholen wollen.«

»Ich kenne keinen Investor, der nicht an seine Rendite denkt, Herr Dr. Leibfried. Das gehört ganz einfach zu Ihrem Beruf! «, wendet später ein Abgeordneter der Linken ein. Auch die Pläne von Leibfrieds erstem Entwurf, die eine extreme Bebauungsdichte und damit die maximale Ausnutzung des Grundstücks vorsahen, sprechen eine andere Sprache als Leibfried.

»Sie halten das vielleicht für das typische Bauträgergewäsch von der Kreuzberger Mischung, das Sie seit Jahren immer wieder hören. Aber wir wollen tatsächlich preisgünstige Mietwohnungen bauen!«

»Wieviele?«, möchte eine Frau aus dem Publikum wissen.

»Etwa 30...«, sagt der Investor. Noch etwas monotoner als sonst.

»Und der Rest?«

Der Rest sind 110 Eigentumswohnungen. Umgerechnet in Quadratmeter wird das Missverhältnis zwischen dem Angebot für den Kreuzberger und den Wohlstandsbürger sogar noch etwas deutlicher: Von insgesamt 12.900 Quadratmetern neuem Wohnraum fallen lediglich 890 Quadratmeter unter die Kategorie »preisgünstig.« Die restlichen 12010 Quadratmeter liegen entweder auf Durchschnittsniveau oder im Luxussegment.

»Genau das ist das Prinzip der Verdrängung, Herr Leibfried!« Wenn mehr Wohnungen für Reiche entstehen als für Arme, werden irgendwann nur noch Reiche hier wohnen. »Nicht jede Wohnung, die gebaut wird, ist eine gute Wohnung!« Eine Stimme von der Galerie.

»Wir bauen aber nicht nur teure Luxuswohnungen,« sagt der Investor, »wir wollen auch preisgünstige Eigentumswohnungen bauen für ganz normale Durchschnittsbürger«.

»Kreuzberger sind aber keine ganz normalen Durchschnittsbürger!«, kommt es von der Galerie. Kreuzberger haben keine 4000 Netto.

Eine Weile wogt das Gespräch hin und her zwischen Frage und Antwort. Leibfried spricht in gewohnter Unschuldsmanier. Kreuzberger werfen Bemerkungen dazwischen, Politiker melden Zweifel an. Die Gutachter erklären, dass das Kleingewerbe, besonders das Handwerk, aus dem Bezirk zu verschwinden droht; die Brauerei müsse als Gewerbegebiet und Existenzgrundlage für kleine Betriebe erhalten bleiben. Die Sprecherin einer Bürgerinitiative beklagt, dass die Mieter in den Konzepten »schlicht nicht vorkommen«, weil niemand die Quadratmeterpreise dieser Konzepte bezahlen könne; und dass keiner der Altmieter auf dem Hof freiwillig die Räume aufgebe, sondern weil die Mietverträge gekündigt worden seien.

Und der Baustadtrat und seine Kollegen werfen die Frage auf, was eigentlich geschehe mit den Bauwerken, wenn sie dann eines Tages wirklich dort stehen sollten. »Denn wenn ich das recht verstehe, Herr Schmidt, dann will Herr Dr. Leibfried das Gelände entwickeln und anschließend weitergeben.«

Die eigentliche Frage wäre also nicht, was gebaut wird, sondern für wen. Der Investor legt seine Hand auf den kleinen Stapel mit Holztafeln, die vor ihm auf dem Tisch liegen, und sagt:

»Wir bauen Wohnungen für 6,50 den Quadratmeter. Für die HOWOGE. Wir bauen denen das da hin, und die machen dann damit, was sie für richtig halten.«

»30 Wohnungen....!« Gelächter.

Die Sekretärin hat keine Lust mehr. Sie hat bereits Feierabend und ist gegangen. Aber Dr. Leibfried hat die hübschen Holztäfelchen zur Hand genommen, auf die er die hübschen Fotografien der hübschen Wohnungen aufgezogen hat, und zeigt sie herum. »6.50 den Quadratmeter, das ist doch was!«, sagt er. Es ist ein letzter Versuch, die Kreuzberger zu überzeugen. Umsonst. »So viel Geld hab ick nich, Herr Leibfried, det is mir zu ville!«

Später, nach der Sitzung, auf dem langen Flur, findet der Investor doch noch zwei Gesprächspartner. Ein junges Paar, das offensichtlich an einer Wohnung interessiert ist, lächelt ihn an und fragt: »Falls Sie keine Genehmigung für den Wohnungsbau bekommen, was machen Sie denn dann?« – »Dann baue ich eben Gewerberäume. Die Allianz hat schon angefragt. Interessenten gibt es genug.«

Dann nimmt er seinen schwarzen Aktenkoffer und verschwindet lächelnd in der Nacht. Er weiß: Er hat ein Geschäft gemacht, so oder so. Dieser Boden ist Gold wert. •





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