November 2017 - Ausgabe 194
Kanzlei Hilfreich
Die Geschichte von Necla I von Kajo Frings |
Diese Geschichte geschah so oder ähnlich im Westberlin der 80er Jahre - Schlüsse auf die heutige Arbeit des Jugendamtes Kreuzberg sind daraus nicht zu ziehen. Die Eheleute Birlik waren entsetzt. Ihr Anwalt Jens Hilfreich hatte eine Strafakte vor sich liegen, angeklagt war Herr Birlik wegen Misshandlung seiner 15-jährigen Tochter Necla. Die Eheleute Birlik hatten sich vor 6 Monaten an ihn gewandt, als ihre Tochter um 16 Uhr immer noch nicht aus der Schule gekommen war. Mitschülerinnen hatten erzählt, sie wäre von einer Frau aus dem Unterricht geholt worden und nicht mehr wiedergekommen. Die Schule gab keine Auskunft. Beim zuständigen Polizeirevier versicherte man ihm, das Mädchen sei in guten Händen, mehr könne man nicht sagen. Jens Hilfreich ahnte Böses und telefonierte mit einem der wenigen vernünftigen Beamten, die es damals im Jugendamt Kreuzberg gab, und erfuhr, dass es eine »Inobhutnahme« gegeben hatte. Necla war per Flugzeug von Tempelhof nach Bremen zu einer Pflegefamilie in der Nähe der dänischen Grenze verbracht worden. Dies war ein übliches Vorgehen in Westberlin, insbesondere wenn der Verdacht bestand, dass Kinder vor ihren Eltern geschützt werden müssen. Bemerkenswert war, dass ausgerechnet Frau Gregor-Dimitrios den Fall in die Hände bekommen hatte. Sie war alleinerziehende Mutter, die alle Väter, insbesondere die ausländischen, unter den Generalverdacht der Kindesmisshandlung stellte und Pflegemütter - insbesondere die Pflegemutterikone Mia Farrow - als Ausweg aus allem Übel sah. Necla war - so die Akten - eines Morgens verspätet, auffällig blass und mit Verletzungen im Gesicht in die Schule gekommen. Auf Initiative der Lehrerin hatte die herbeigerufene Schulärztin frische Hämatome im Hals- und Brustbereich, an Hüften und Oberschenkel attestiert. Da Necla sich weigerte, über die Ursachen zu reden, wurde das Jugendamt informiert und jene Frau Gregor-Dimitrios hatte nach dreistündigem Gespräch Necla zu dem Geständnis bewegt, von ihrem Vater am Abend vorher verprügelt und dann im kalten Badezimmer bis zum Morgen eingesperrt worden zu sein. Konfrontiert mit dem Inhalt der Akte und den Bildern, die die Schulärztin gemacht hatte, war Herr Birlik konsterniert: »Ich weiß nicht, warum Necla das sagt. Das stimmt nicht. Ich habe sie nie geschlagen. Meine Frau und ich sind wie immer um sechs Uhr zur Arbeit gefahren, Necla und Elif haben noch geschlafen. Manchmal, wenn Streit war in der Familie wegen schlechten Noten, hat Necla sich im Badezimmer eingeschlossen, ich habe sie nie eingesperrt.« »Mein Mann sagt Wahrheit«, ergänzte Frau Birlik. »Und Sie können sich die Verletzungen nicht erklären?« fragte Jens Hilfreich. Ein einstimmiges »hay1r« kam als Antwort. • (Fortsetzung folgt im nächsten Heft) |