März 2017 - Ausgabe 187
Kreuzberger
Crystalle Bobbe
von Hans W. Korfmann
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Ich war kaum geboren, da wusste ich schon: Ich muss hier weg! Sie wohnt im Gartenhaus, in einer riesigen Wohnung unter dem Dach, im vierten Stock, über der Hochbahn, dem Himmel schon ein kleines Stück näher als andere. Vielleicht, weil sie Tänzerin ist, weil sie schon als Kind immer wieder versuchte, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Sie war beim Ballett, tanzte auf dem Schwebebalken, Angst vor Stürzen hatte sie selten. Jetzt tanzt sie in der Luft, hängt an einem Seil unter Zirkuskuppeln und Saaldecken und erzählt Geschichten. Erzählt von der Begegnung des Flugpioniers Otto Lilienthal mit der Tänzerin Loie Fuller, schwebt zwischen den Flugzeugen des Boeing-Museums in Seattle, dem heutigen Future of Flight, oder in Hollywood, wo man das Spaceshuttle ausgestellt hat. Oder sie erzählt in einem »Adagio« die Geschichte der amerikanischen Fliegerin Amelia Earhart, schwebt im Teatro ZinZanni am Pier 29 in San Francisco, oder über der Terrasse des Kreuzberger Technikmuseums vor der Kulisse des silbernen Motorvogels, der längst zum Wahrzeichen des Hauses geworden ist. Sie wirft den Propeller an, fliegt über den Atlantik, einsam, weit, es ist neblig an diesem 2. Juli des Jahres 1937, als ihr Flugzeug zu trudeln beginnt, weit draußen über dem Meer. Dass Crystalle ein Leben lang tanzen würde, daran hatte sie wahrscheinlich selbst nicht geglaubt, als sie aus dem elterlichen Haus im Wald floh. Mit ihrer Freundin, für die sie den Ausweis des Bruders manipuliert hatte, weil das Taschengeld für ein Ticket nach Hannover nicht reichte. »Ich war noch gar nicht geboren, da wusste ich schon, dass ich wegmusste aus Hildesheim!« Die Verkehrsbetriebe brachten die Ausreißerinnen zunächst einmal zurück in den Wald, aber aufhalten konnten sie Chris nicht. Kaum war sie alt genug, erklärte sie dem Vater, dass sie zur Zirkusschule wollte. Aber der Architekt hatte anderes mit der Tochter vor und protestierte, aber auch er konnte sie nicht mehr aufhalten. Und so stand sie eines Tages in Paris vor der Ecole au Carré Silvia Monfort, zog Jahre danach weiter zur Ecole Nationale du Cirque Anni Fratellini und zur Ecole Internationale Superieure de Trapeze Volant Jean Palacy. Sie blieb ein halbes Leben in Paris, dieser Stadt, in der man »eigentlich nur wohnen kann, wenn man eine Großmutter hat, die da vor hundert Jahren mal eine Wohnung gekauft hat.« »Dagegen ist die Wohnungssuche in Berlin noch ein Kinderspiel. Diese Wohnung hier wollte keiner haben! Das sind ja nur zwei Zimmer, Küche, Bad!« Aber diese zwei Zimmer sind groß. Groß genug, um in dem fensterlosen Berliner Zimmer, dem zentralen Saal des 150 Quadratmeter großen Wohnsitzes, ein riesiges Segelflugzeug aufzuhängen, eines von den vielen Modellflugzeugen, die ein Freund ihres Vaters gebaut hat. Als Chris von seinem Tod hörte, sorgte sie sich um die Flugzeuge und rief an in Hildesheim. Jetzt schwebt einer dieser Segler in Kreuzberg hoch über der Hochbahntrasse. Wolfgang hat ihn zu einer Lampe umgebaut. »Wolfi baut immer, der kann alles. Wir ergänzen uns sehr gut. Ich habe die Ideen, er setzt sie um.« Im Arbeitszimmer steht eine Arbeitsplatte, so groß wie ein Kinderzimmer, beladen mit Werkzeug, Schrauben, Bauteilen, Zetteln, Weingläsern, einem Schwein aus Porzellan-Scherben. Sie liebte diese verrückten Schweineskulpturen von Paul Reimert und sagte irgendwann zu ihm: Ich hab soundsoviele Scheine, machst du mir eins? An ihrem Geburtstag klingelte es an der Tür. Seitdem streckt das Schwein jedem Besucher die Zunge heraus. Ihre Wohnung ist nicht einfach eine Wohnung. So wie ihre Zirkusnummern nicht einfach nur Zirkusnummern sind. Ihre Wohnung ist ein Gesamtkunstwerk. Sie erzählt von ihr. Auf der Fensterbank liegt ein Fernglas, Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit, nach Weitblick. In der Küche lauter kleine Spiegel, die die Sonnenstrahlen noch bis in die hintersten Ecken weiterleiten: Ausdruck der Sehnsucht nach Licht, und Sonne. Und überall die kleinen Lämpchen, die Lichterketten, Glühbirnen, Mosaike, die an Schminktische in Zirkuswagen und die bunten Lichterketten erinnern, mit denen Zirkuszelte durch die Nacht leuchten: Lauter Metaphern für die Sehnsucht nach dem Zirkus. Crystalle Bobbe hatte recht. Sie war nicht geschaffen für ein Leben in den lichtscheuen Wäldern des Harz, ein Leben in schweren, von Erde verklebten Stiefeln. Selbst in den kleinen Ballettschuhen steckte ihr zu viel Erdanziehungskraft. Noch jetzt, im Mittelpunkt ihres Lebens, bewegt sie sich trotz dicker Socken und schwerer Jeans mit einer Leichtigkeit durch die Wohnung, die man für naturgegeben hält, und der man keinen Moment des harten, jahrelangen Trainings ansieht, das sie hinter sich hat. Täglich hängt sie mehrere Stunden am Seil, in ihrer Wohnung und in einer Turnhalle in der Nähe. Natürlich hat sie in Paris nicht nur Artistik gelernt, sondern auch das Lächeln. Crystalle kann wunderbar strahlen im Scheinwerferlicht, wenn sie nach dem Auftritt wieder festen Boden unter sich spürt. Aber sie strahlt auch, wenn sie nicht im Scheinwerferlicht steht. Weil nichts an ihrer Show nur Show ist. Sie ist, wie sie ist. Sie strahlt genau so wie auf der Bühne, wenn sie Freunden von den beiden Musikern erzählt, die eines Abends nach acht Flaschen Wein derart betrunken durch die Straße wankten, dass sie die Beiden nur noch durch »Hechtsprünge« vor dem Verkehrstod retten konnte. Sie strahlt, wenn sie die Geschichte von ihrem Großvater, dem Bankräuber, erzählt. Sie lacht, wenn sie den Korken nicht aus der Flasche bekommt, oder wenn sie ein Wort vergessen hat, ohne das sie den Gedanken nicht ausführen kann. Es scheint, als trüge sie diesen klingenden Namen, den ihr der Vater einst gab, nicht umsonst, als würde sie nicht angestrahlt, sondern als strahlte sie von selbst. Zwölf Jahre später überquerte sie in einer kleinen Lockheed Vega 5d als erste Frau alleine den Atlantik und wurde nicht nur von amerikanischen Feministinnen, sondern sogar im Weißen Haus gefeiert. Im Juli 1937 aber verschwand die amerikanische »Queen of the Air« auf Position 157/337 plötzlich vom Radarbildschirm. Ihr letzter Funkspruch an ein unter ihr vermutetes Schiff lautete: »Wir müssen über euch sein, können euch aber nicht sehen. Der Treibstoff wird knapp...« Seit Jahren bemühen sich Wissenschaftler, das Verschwinden der amerikanischen Nationalheldin zu klären. Crystalle bemüht sich in ihrem Adagio nicht darum. Sie findet diese Geschichte schön, so, wie sie ist: ein Mythos, ein berührendes, poetisches Stück aus der Geschichte der Luftfahrt, eine Metapher für die Sehnsucht nach Freiheit. Die Geschichte einer Frau, die »alles, was sie tut, aus Lust tut.« Und eine Geschichte, die ein kleines bisschen so klingt wie die von dem Mädchen aus dem Harz, das den Wald nicht mehr ertrug. • Fotos: Wolfgang Wiegands |