Kreuzberger Chronik
Juni 2017 - Ausgabe 190

Herr D.

Der Herr D. hört Stimmen


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von Hans W. Korfmann

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Von den Errungenschaften der Zivilisation

Der Herr D. beeilte sich, um auf dem Chamissoplatz noch einen Strauß für seine Mutter zu kaufen. Er kürzte die Morgentoilette ab, nahm die Treppen im Doppelschritt und wollte gerade die Straße überqueren, als die vertraute Stimme der Nachbarin ihn stoppte und ihm stante pede die neuesten Neuigkeiten der Straße erzählte. Wenig später traf er Bürstenschröder, der seinen schweren Karren die Arndtstraße entlangschob, woraufhin der Herr D. die »Mühsal des Lebens« erwähnte, was den Bürstenmann zum umfassenden Rezitieren eines Goethegedichtes animierte.

Als er endlich am Blumenstand ankam, waren alle Sträuße verkauft. Er überlegte, was zu tun sei, da verspürte er einen leichten Druck im unteren Unterleib. Obwohl dieser Druck noch keine bedrohliche Größe angenommen hatte, beschloss er, ihm prophylaktisch nachzugeben und einen kleinen Umweg über das Café Achteck einzuschlagen. Doch das Achteck, das vor nicht allzu langer Zeit kostenintensiv saniert worden war, hatte wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Augenblicklich erhöhte sich der Druck im Unterleib!

Der Herr D. sah zum Heidelberger Krug hinüber, vor dem er samstags früher öfter in der Sonne gesessen hatte. Doch der Krug hatte geschlossen. Der Herr D. tat, als habe er alle Zeit der Welt, schlenderte pfeifend durch die Straßen, vorbei an Cafés und Kneipen, an deren Türen kleine Zettel darauf hinwiesen, dass ein Lokal »Keine öffentliche Toilette!« sei, bis er, eher zufällig, den Weg zur »Wall-Ecke« einschlug, Gneisenau Ecke Mittenwalder: Die letzte öffentliche Toilette in der Nähe. Eine Errungenschaft der Zivilisation aus dem 19. Jahrhundert. Fast war er am Ziel seiner Wünsche, da hörte er hinter sich die zweite wohlbekannte Stimme dieses Morgens: »Ach nee, der Herr D.!« Strahlend hielt Klaus ihm das neueste Exemplar der Motz entgegen. Der Herr D. kramte in den Hosentaschen und reichte ihm alles, was er an Kleingeld fand. Klaus willigte ein, und erst, als der Herr D. vor der futuristischen Toilette stand und den Schlitz für den Geldeinwurf sah, wurde ihm klar, dass er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte.

Er hatte keine Wahl! Er suchte sich eine stattliche Linde und ließ Natur und Schicksal ihren Lauf. Gerade wollte er die Kleiderordnung wieder herstellen, da hörte er hinter sich die dritte Stimme des Tages: die Stimme des Ordnungsamtes. »Junger Mann, das ist doch hier keine öffentliche Toilette. Wenn das jeder machen würde!« Der Herr D. schloss die Öffnungen seiner Hose und drehte sich um: »Nee, das ist keine öffentliche Toilette hier, das sehen Sie richtig, junger Mann! Das ist ein einziger Scheiß hier in der Stadt, in der es nicht mal mehr öffentliche Toiletten gibt. Seien Sie froh, dass ich hier nicht noch mehr hinterlasse als nur einen kleinen Fleck auf der Baumrinde!« Sagte der Herr D., grüßte und ging an Leib und Seele erleichtert seiner Wege. •


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