Juli 2017 - Ausgabe 191
Strassen, Häuser, Höfe
Der Kottbusser Damm Nr. 6 von Werner von Westhafen |
Im Krieg verlor das Haus zwei Etagen. Jetzt wird wieder aufgebaut. Es sieht so aus, als hätten es die Immobilienmakler oder die in Tschechien wohnenden Eigentümer längst vergessen. Das Haus mit der Nummer 6 ist das unscheinbarste, ungepflegteste, außerordentlichste Gebäude am ganzen Damm. Ganz oben, in der dritten Etage, sind die Fenster, die bei einem Bombenangriff herausfielen, heute noch zugemauert. Gewohnt hat dort oben seit 50 Jahren niemand mehr. An den Wänden der Nummer 6 klebt noch immer der billige, graue Nackriegsputz, die schwere, von Graffiti beschmierte Doppeltür im Vorderhaus führt in einen Hof, der selbst im Sommer noch angenehm kühl und feucht ist, und im Winter ein Eiskeller. Es ist einer der letzten Höfe, in dem noch vor wenigen Monaten eine alte Wasserpumpe stand, an der die Hausbewohner vor der Ankunft des fließenden Wassers ihre Schüsseln und Kannen füllen konnten. Bewohner anderer Häuser mussten bis zu den öffentlichen Brunnen an der Straße laufen, um sich mit Wasser zu versorgen. Dennoch war die Nummer 6 wahrscheinlich schon früher kein sonderlich vornehmes Haus. Die Aufgänge im Hinterhof sind eng und lichtscheu, die Wohnungen in den Seitenflügeln klein und wenig komfortabel, mehr als zwei Zimmer haben die wenigsten. Noch immer rauchen im Hinterhof die kleinen Kohleöfen, und die Toiletten liegen in winzigen Kammern, die im Winter einzufrieren drohen. Im zweiten, winzigen Hof zwischen dem Durchgang mit den von rostbraunem Kohlestaub umgebenen Mülltonnen und der Schulhofmauer der Graefe-Schule hat ein Mieter eine hölzerne Sauna aufgestellt für jene Tage, an denen die Kälte unerträglich wird. Alles mögliche Gerümpel türmt sich vor dem Eingang zu einer kleinen Erdgeschosswohnung, in der ein junger Künstler und ein alter Klavierbauer ihre Werkstätten haben. Der Hausmeister, der viele Jahre lang eine Wohnung am oberen Ende des Treppenhauses im 4. Stock bewohnte, hatte unter dem Dach eine komplette Fahrradwerkstatt eingerichtet und vor seiner Wohnungstür eine ganze Herde von Drahteseln angebunden. Es wehte ein Hauch von Freiheit durch den Kottbusser Damm Nummer 6. Es ließ sich leben in diesem Haus, in dem sich seit Jahrzehnten nicht einmal die Mieten groß verändert haben. Zumindest nicht für jene, die schon lange genug hier wohnen. Aber auch die Studenten, die sich seit dreißig Jahren die Türklinken der Nummer 6 in die Hand geben, sind glücklich über dieses Wohnungsangebot. Kein Studenteneim kann günstiger sein als diese Altbauwohnungen am Kottbusser Damm mit ihren knarrenden Dielen, ihrem quietschenden Treppengeländer, ihren vom Erblinden bedrohten Fensterscheiben, und dieser komfortablen Lage mit der U-Bahn vor der Haustür, dem Markt am Mayachufer, den Imbissbuden und den vielen Läden um die Ecke zwischen Hermannplatz und Kottbusser Tor. Foto: Dieter Peters
Während in den Seitenflügeln und im Quergebäude schon in den Sechzigern die Studenten damit beschäftigt waren, ein- und auszuziehen, waren die bürgerlichen Familien in den Dreizimmerwohnungen des Vorderhauses mit der roten Marmorverkleidung im Eingang und den Treppen aus weißem Marmor wesentlich sesshafter. Allerdings nur auf zwei Etagen, denn die Eigentümer der Nummer 6 dachten nicht daran, die Wohnungen im 3. Stock mit Fenstern auszustatten. Sie überließen die Etage den Tauben. Erst recht scheuten sie sich, den fehlenden 4. Stock und die niedrige Dachetage wieder aufzubauen, die bei der offensichtlich baugleichen Nummer 7 im Krieg verschont geblieben waren. Vermutlich haben die Bomben die Nachbarhäuser 4 und 5 dem Erdboden gleichgemacht, bei der 6 jedoch nur die oberen Stockwerke des Vorderhauses zerstört. Die Nummern 7, 8 und 9 wurden komplett verschont und stehen heute noch. Es sah so aus, als hätte man die Nummer 6 nach dem Krieg schlicht vergessen. Erst als die Mauer fiel, erinnerten sich die Erben an sie. Gleich zwei Mal wechselte das Haus den Besitzer, und kürzlich stand der brandneue Hausbesitzer im Hof und warf einen Blick auf das, was sich hinter den Baugerüsten verbarg. Ein smarter, gut gekleideter, nicht mehr ganz junger Mann stand da im feuchtkalten Hof und schien sofort einen Schnupfen zu bekommen. »Das ist kein Schnupfen!«, wusste eine sachkundige Mieterin, »Das ist Koks!« Und eine andere Mieterin wusste: »Weißt du eigentlich, wer das ist? Das ist der doch der Ingo, ein Sohn von Rolf Eden.« Wer auch immer der nicht mehr ganz junge Mann war, der nun im Hof stand: Er versicherte, keine Luxuswohnungen zu bauen und alle hier wohnen zu lassen. Aber die Bewohner sind nervös geworden, und es könnte sein, dass es schon bald vorbei ist mit dem 70-jährigen Frieden in diesem Haus. • |