Kreuzberger Chronik
Juli 2017 - Ausgabe 191

Geschichten & Geschichte

Der Tod aus Kreuzberg


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von Horst Unsold

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Wie ein friedlicher Bierkeller zur Waffenschmiede wurde.

Es war ein Pfälzer, der 1838 als erster auf die Idee kam, eine Bier-Brauerei mit Schanklokal und Garten bei den Windmühlen auf den Hügeln der Tempelhofer Berge zu errichten. Hier oben hatten die Gäste nicht nur eine wunderbare Aussicht, sondern es ließen sich in dem Sandhaufen an der Straße Nr. 23, die später den Namen Fidicins erhielt, auch leicht die Keller graben, die man zur Kühlung des gärenden Gerstensaftes benötigte. Noch mit Schaufeln wurden die Schächte für die länglichen Gewölbekeller ins Erdreich gegraben, die Bögen mit Ziegeln gemauert und am Ende wieder mit Erde bedeckt. Die Keller sind heute die ältesten Relikte der Brauerei. Dann erst entstanden die Wirtschaftsgebäude und der legendäre Biergarten von Georg Leonard Hopfs Bockbier-Brauerei.

Die Keller der Brauerei, die später zum Schultheiss-Imperium gehörte, könnten zu den ältesten Kreuzbergs gehören. Während der Festsaal und einige Wirtschaftsgebäude während des Krieges zerstört wurden, blieben die unterirdischen Gewölbe von den Bomben verschont. Das war nicht allein ihrer soliden Bauweise geschuldet, sondern auch den Nazis, die 1944 eine etwa zwei Meter dicke Betondecke über die etwa 30 Keller zwischen Fidicinstraße und Schwiebusser Straße gossen. Nicht etwa, um die Kreuzberger Bevölkerung vor dem Krieg zu schützen, sondern um ihre Rüstungsindustrie zu verteidigen, die ausgelagert werden musste, da die Alliierten die Waffenschmieden der Nazis ausgekundschaftet und zu bombardieren begonnen hatten.

Ausweichquartiere für Berliner Rüstungsbetriebe und Zulieferer fanden sich in unterirdischen Anlagen unter dem Tempelhofer Feld, in U-Bahntunneln, aber auch in den Gewölbekellern der Brauereien. Schultheiss stellte den Nazis unterirdische Räumlichkeiten in der Schönhauser, der Saarbrücker und der Fidicinstraße zur Verfügung, die innerhalb der Firma fortan harmlos erscheinende Tarnnamen wie »Agnes«, »Rita« oder »Agathe« erhielten. Im internen Schriftverkehr der Nazis dagegen sprach man von Loren.

Besondere Bedeutung kam der »Lore 2« zu, den großen Kellern der Schultheiss-Brauerei an der Kreuzberger Fidicinstraße. Hier sollte die Firma Telefunken spezielle Elektronenröhren für die Bord- und Leitsysteme in Flugzeugen und Raketen herstellen, überaus wichtige Bestandteile der Kriegsmaschinerie, ohne die nicht nur die Ju 87, Hitlers »zerstörungsträchtigstes Flugzeug«, sondern auch die legendäre V2 ihr Ziel unweigerlich verfehlt hätten. Wie wichtig der unterirdische Produktionsstandort am Tempelhofer Berg war, geht aus der Korrespondenz der Firma Telefunken hervor: »Mit der ausreichenden Lieferung der Röhren RS 720 steht und fällt der Störsendereinsatz gegen das englische Hyperbel-Navigations-System.« Auch die zwei Meter dicke »Zerschelldecke«, die allein 1,25 Millionen Reichsmark kostete, belegt
Heinz Kleemann
Der große Gärkeller - Foto: Heinz Kleemann
die Bedeutung der Röhrenfabrikation in der Fidicinstraße, die im Frühjahr 1944 begann. Etwa 50 Zwangsarbeiter bezogen die hölzernen Baracken auf dem Hof und arbeiteten rund um die Uhr, um die laut Mietvertrag zwischen der Schultheiss-Brauerei und der Telefunken GmbH insgesamt »2835« Quadratmeter in eine unterirdische Waffenschmiede zu verwandeln. Doch trotz aller Anstrengungen, und obwohl die Einrichtung mit »primitivsten Mitteln« vollzogen wurde, war die Röhrenproduktion mit 250 Arbeitsplätzen erst im Dezember einsatzbereit. Ziel war es, gemeinsam mit den drei anderen »Loren« monatlich 200.000 Röhren für die Ausrüstung des Luftkrieges, und damit für den versprochenen Endsieg, zu produzieren.

Die Ziele der Nazis wurden nicht erreicht, da die anderen Produktionsstätten im Dezember nur zum Teil einsatzbereit waren. Hinzu kam, dass die Produktion in der Fidicinstraße mit einem Ausschuss von 40.000 fehlerhaften Röhren im Verdacht stand, sabotiert zu werden. Flugblätter oder nazikritische Propaganda wurden nie gefunden, aber der Verdacht blieb. Dennoch wurden bis zum Ende des Krieges noch etwa 3000 deutsche Raketen, ausgerüstet mit Röhren der Telefunken GmbH, auf England, Belgien und Frankreich abgeschossen, die etwa 8000-12.000 Menschen das Leben kosteten.

Die vermeintlich ältesten Keller Kreuzbergs hätten unter der Betondecke der Nazis vermutlich jeden Bombenangriff überstanden. Den Investor der Bauwert GmbH allerdings werden nicht alle von ihnen überstehen. Obwohl Georg Leonard Hopfs zweistöckige Eiskeller an der Schwiebusser Straße zu den ältesten und schönsten in Kreuzberg gehören, wurden sie bislang nicht unter Denkmalschutz gestellt. Lediglich jene 20 Gewölbe, in denen die Rüstungsindustrie hauste, darunter der imposante, 560 Quadratmeter große Gärkeller der Brauerei, sind mit Verweis auf die Nazivergangenheit geschützt. Auch wenn die Nazis kaum Spuren hinterlassen haben und noch kein Mahnmal, wie es die Initiative Denkmalschutz Bockbrauerei fordert, an die Menschenverachtung in den Kellern erinnert. Historische Braukeller, so die Behörde, gäbe es in Kreuzberg genug. Auch der 96 preußische Fuß hohe Schornstein mit dem Heiz- und dem Maschinenhaus steht den Plänen der Bauwert im Wege. Nächstes Jahr wäre er 150 Jahre alt geworden, nun soll er für immer aus dem Stadtlandschaftsbild entfernt werden.

Er fällt in einem Kampf, in dem es um jeden Quadratmeter geht, um jeden Euro. Er ist ein Opfer einer Profitgier, die auch vor jenen nicht Halt macht, deren Existenz mit dem Hof der Brauerei eng verknüpft ist. Schon jetzt möchte der Bauunternehmer die Hinweistafel mit den ansässigen Firmen am Eingang des Gewerbehofes entfernen. So wird auch die alte Bockbier-Brauerei ein weiteres trauriges Beispiel für das Totalversagen der Politik. •


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