Februar 2017 - Ausgabe 186
Essen, Trinken, Rauchen
Die Volkküche im Anno von Sybille Matuschek |
Es sieht anders aus als die üblichen Orte der Armenspeisungen mit ihren ausgedienten Resopaltischen, dem Plastikgeschirr und den gutmütigen, aber resignierten Blicken der ehrenamtlichen Mitarbeiter, die nicht einmal mehr auf dem dritten oder vierten Arbeitsmarkt eine Chance haben. Hier sehen alle so aus, als ließe sich das Leben noch aushalten. Sowohl diejenigen, die das Essen über den Tresen reichen, als auch diejenigen, die es verspeisen. Im Sommer sitzen sie an den Biertischen draußen auf der Straße in der Sonne, halbleere Halblitergläser Bier neben sich, und im Winter drinnen, in der Kneipe mit dem Billardtisch und dem langen Tresen und dem Rauch vom gestrigen Abend, an dem Kalle oder Peter wieder einmal seine Gitarre bearbeitete. Dennoch verwandelt sich die Kreuzberger Kneipe mit ihrer nachmittäglichen Happy Hour, der Bier-Tombola, den Konzerten und der Tanzfläche unter der kleinen Diskokugel sonntags tatsächlich in eine Art Volksküche. Dann gibt es um die Mittagszeit statt Bier und Korn und Zigaretten echt deutsches Mittagessen mit Kohlrouladen oder Schnitzel oder Schweinshaxe, dann trifft sich im Anno die durchschnittliche Kreuzberger Nachbarschaft. Nicht alle hier leben von Hartz IV, von winzigen Renten oder schlecht bezahlten Nebenjobs, nicht alle sind brotlose Künstler oder Lebenskünstler. Hier sitzen tatsächlich einige, die - wenn auch nur zeitlich befristet - in Lohn und Brot stehen und ihren Nachbarn am Tisch ein Bier ausgeben können. Hier sitzen alle Ingredienzen der berühmten Kreuzberger Mischung, der Chef eines Ein-Mann-Unternehmens, der taz-Praktikant, der arbeitslose Germanist. Nur von denen, die am nächsten Montag um 8 in Anzug und Krawatte im Büro erscheinen müssen, sitzt kaum einer an den Biertischen in der Gneisenaustraße. »An andern Tagen kannst du natürlich auch für kleines Geld son Mittagstisch in irgend ner Pizzeria nehmen. Aber da sitzt ja keener! Da sitzte dann ganz allein am Tisch und kaust auf den labbrigen Nudeln rum... - das muss ja nicht sein! Und zum Schluss gibts nen abgelaufenen Pudding zum Nachtisch!« »Ein bisschen Stil muss sein. Sonst könnte man ja gleich zur Kirche gehen!« »Aber sonntags ist sowieso nüscht in der Kirche. Sonntags sind die Volksküchen alle geschlossen. Während die satte Mittelschicht sich zuhause die Bäuche vollschlägt...« So reden sie am Sonntag, kauen und trinken, rülpsen und rauchen, manchmal bis zum Abend, manchmal bis spät in die Nacht hinein, bis wieder Peter oder Kalle oder sonst irgendeiner dieser Künstler oder Lebenskünstler kommt und die Gitarre auspackt und seinen Kreuzbergblues spielt ... • |