Kreuzberger Chronik
Februar 2017 - Ausgabe 186

Reportagen, Gespräche, Interviews

Stadtoasen (1):
Das Land am Friedhofsrand



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von Hans W. Korfmann

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Am 24. Januar stellte die Friedhofsverwaltung in der Passionskirche ihre Baupläne vor. Die Gegner der Bebauung wollten protestieren. Doch der lauteste Protest kam von den Gegnern der Gegner.


Zuerst kommen die Architekten mit lautlosen Bleistiften und Aktenordnern. Dann kommen die verschwiegenen Männer mit den Helmen, den Ohrschützern und den Motorsägen. Sie holzen schon einmal ab, was im Wege stehen könnte: den Lkws, den Baumaschinen, den Neubauten. Dann kommen die schweren Geräte. Und dann ist es schon zu spät. Dann dauert es nicht mehr lange, und da, wo einst drei kleine Bäumchen wuchsen, steht ein Zementblock mit ein paar Glasscheiben.

Ähnliches könnte - so befürchten die pessimistischsten der Pessimisten - nun auch auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof an der Bergmannstraße geschehen, schräg gegenüber dem Blumenladen, dort, wo noch eine Kapelle und ein altes Pfarrhaus mit einem kleinen Gärtchen davor stehen. Die drei Bäumchen im Garten, die sich im vergangenen Frühjahr noch idyllisch über den Gartenzaun beugten und den Friedhofsweg säumten, sind bereits gefällt. Ein aufmerksamer Passant, der die Hilfsarbeiter fragte, weshalb man die Bäume entferne, erhielt zur Antwort, man handele »nur nach Anweisung«. Als der Passant sich mit dieser Anwort nicht zufrieden gab, nahm der Mann mit der Motorsäge die Klappen von seinen Ohren und erklärte, die Maßnahme geschehe zum Schutz des Zaunes. Doch der Schutz des Zaunes könnte eine Schutzbehauptung, der eigentliche Grund ein ganz anderer sein.

Das Grundstück mit der kleinen Kapelle, das an die letzte Häuserzeile vor den historischen Friedhöfen grenzt, ist ein Streitapfel. Die Bestatterin Susanne Jung streitet deshalb sogar vor Gericht mit der Friedhofsverwaltung. Um entlang der Friedhofsgrenze ein einstöckiges Abschiedshaus zu errichten, hatte sie einen Pachtvertrag über das Grundstück abgeschlossen. Zwei Jahre lang investierte sie Geld und Zeit in das Projekt, kämpfte gegen misstrauische Anwohner, erklärte sich bereit, auch die Kapelle zu restaurieren, doch am Ende musste sie aufgeben: Auf besagtem Grundstück befand sich eine Last aus dem 19. Jahrhundert, fernen Zeiten, in denen sich auf dem Friedhofsacker noch keine Gräber, sondern ein kleiner Betrieb befunden hatte. Die Grundlast verhinderte den Grundbucheintrag Susanne Jungs, und ohne Grundbucheintrag verwehrte die Bank die weitere Mitarbeit.

Jetzt klagt die Bestatterin auf Schadensersatz, allerdings ohne viel Aussicht auf Erfolg. Die Richterin, unglücklicherweise »ein ehemaliges Mitglied der Gemeinde, hat bereits signalisiert«, dass sich Frau Jung keine großen Hoffnungen machen soll. Obwohl Susanne Jung durchaus plausibel argumentiert, dass den Justiziaren und der Immobilienabteilung des evangelischen Friedhofsverbandes Mitte, der seit 2011 Besitzer der historischen Friedhöfe ist, der Eintrag der Altlast im Grundbuch wohl bekannt oder einsichtig gewesen sein müsste. Susanne Jung vertritt die Ansicht, dass man bei Vertragsabschluss zumindest grob fahrlässig gehandelt hat. »Oder die haben mich einfach ins offene Messer laufen lassen!«

Foto: Dieter Peters
Susanne Jung ist enttäuscht von der Kirchengemeinde. Sie hörte »kein Wort einer Entschuldigung!« Man bot ihr lediglich eine andere Ecke auf dem Friedhof an, aber Susanne Jung hat das Vertrauen verloren. Sie hat genug investiert, sämtliche Bauanträge sind gestellt, »ich müsste noch einmal ganz von vorn anzufangen!« Die Kirche aber könnte - entgegen aller Beteuerungen über die grassierende Leere im christlichen Klingelbeutel- über genügend Eigenkapital verfügen, um auf die Mitarbeit der Bank zu verzichten und unverzüglich mit dem Bauen zu beginnen.

Nicht nur Susanne Jung ist enttäuscht von einer Kirche, die ihre Nachbarschaft oft lange im Ungewissen lässt. Denn was nun mit den Gebäuden am Eingang geschehen soll, ist noch immer unklar. Zuerst hieß es, ein Pfarrer würde in das alte Pfarrhaus neben der Kapelle einziehen. Einer Angehörigen wurde mitgeteilt, ein Teil des Gebäudes werde abgerissen. Zwei Tage später dementierte die Verwaltung das Gerücht vom Abriss: »Es wird nur angebaut.« In einem kürzlich veröffentlichten Papier heißt es nun endlich, man habe in den letzten Jahren »bereits alle historischen Friedhofsgebäude mit erheblichem Mitteleinsatz saniert. Als letztes folgt noch in diesem Jahr das Kapellenensemble« an der Westseite des Dreifaltigkeitsfriedhofes.

Foto: Dieter Peters
Enttäuscht ist auch die Bürgerinitiative, die sich formierte, als Zeitungsartikel über die Bauabsichten der Kirche auf der Südseite des Friedrichwerderschen Friedhofs auftauchten. Schon in diesem Jahr könnte, wenn die Denkmalschutzbehörde zustimmt, auf den historischen Friedhöfen an der Jüterboger Straße mit dem Bauen begonnen werden. Mit dem Argument, menschenwürdige Unterkünfte für Flüchtlinge zu schaffen, könnten - ebenso wie auf dem Tempelhofer Feld, - auch auf dem christlichen Grünland »Apartments« errichtet werden. Da ein Betrieb von Flüchtlingsunterkünften jedoch per Gesetz zeitlich befristet ist, hat man die Wohnungen so geplant, dass sie auch nach dem Ablauf dieser Frist oder der vorzeitigen Abschiebung der Flüchtlinge in ihre Heimatländer den Quartierbesitzern noch etwas Geld einbringen könnten. Vielleicht sogar mehr als nur ein bisschen. Denn an den bis zu vier Zimmer großen Wohnungen nach dem Vorbild der Heidelberger Studentenheime werden wahrscheinlich nicht nur die »Künstler und Studenten«, die man laut Verwaltung später auf dem Friedhof einziehen lassen möchte, Interesse bekunden. Die Quadratmeter auf dem Friedhofsacker werden zur besten Wohnlage gehören, die sich normalerweise kein Student und kein Künstler mehr leisten kann. »Hier werden keine armen Afrikaner, sondern reiche Deutsche wohnen!« So zumindest argumentierte ein Sprecher der Bürgerinitiative, die immerhin 4000 Unterschriften sammeln konnte.

Die vom Friedhofsverband und der Politik angesetzte Informationsveranstaltung am 24. Januar hätte Klarheit bringen können. Doch die Bürgerinitiative sorgte schon im Vorfeld für Turbulenzen: Pfarrer Storck nutzte die Redefreiheit vor dem Altar nicht allein dazu, das Evangelium, sondern auch die angebliche Nähe der Bürgerinitiative zur AFD zu verkünden. Die SPD verteilte Flugblätter und bezeichnete die Baugegner als Rechtspopulisten. Sogar vermeintlich linke Antirassisten erklärten sich mit der Kirchengemeinde solidarisch und behaupteten, es ginge der Neukreuzberger Müslifraktion lediglich darum, ihren Kiez von Flüchtlingen »sauber« zu halten. Es wurden schwere, gefährlich verletztende Geschütze aufgefahren.

Foto: Dieter Peters
Die angeregte Stimmung im Kirchensaal wurde durch die salbungsvollen Stimmen der Pfarrer Storck und Gahlbeck zunächst erfolgreich besänftigt. Die Podiumsredner aus Politik und Kirche hatten ausreichend Gelegenheit, das Bauprojekt und die Notwendigkeit der Errichtung menschenwürdiger Unterkünfte für Kriegsflüchtlinge darzustellen. Niemand im Gotteshaus widersprach, alle waren der Meinung, dass den Menschen, die übers Meer zu uns flüchten, geholfen werden muss. Es blieb die Frage: »Warum baut man gerade hier?«

Die Politik erklärte dazu, es gäbe keine anderen Standorte im dicht besiedelten, »komplett ausverkauften« Kreuzberg als eben dieses Friedhofsland. Die Diakonie erzählte etwas von ähnlichen Unterkünften, »die gar nicht auffallen« - als sei es die größte Sorge der Kreuzberger, die Afrikaner könnten die Behaglichkeit stören. Jeder Einwand, jeder Alternativvorschlag seitens der Skeptiker gegen das Bauprojekt wurde von einer erstaunlich stark vertretenen SPD-Fraktion und treu versammelten Gemeindemitgliedern in den hölzernen Rängen schon im Ansatz erstickt. Es dauerte nicht lange, da drehte sich die Diskussion nicht mehr um die Errichtung von Neubauten im Grünen, sondern nur noch um die von den Flugblättern aufgeworfene Frage, ob die Initiative dem rechten Milieu entsprungen sein könnte. Es hagelte Beschimpfungen gegen den Initiator, und als am Ende einer der Unterstützer der Initiative öffentlich seine Unterschrift zurückzog, war klar: Wer jetzt noch etwas gegen den Bau sagte, war ein Rassist.

Es war eine traurige Veranstaltung. Die Kritiker wurden immer stiller. Vergeblich versuchte eine Frau in der letzten Reihe zu Wort zu kommen. Als sie endlich das Mikrophon erhielt, wurde es ihr wieder abgenommen. Erst nach der Veranstaltung kam sie zu Wort. »Was haben Sie eigentlich sagen wollen?«, wurde sie vor der Kirche gefragt.


Ich wollte sagen, dass auch ich Unterschriften gegen die Bebauung gesammelt habe, und dass ich nichts gegen Geflüchtete habe. Im Gegenteil: In meiner Familie lebt ein junger Flüchtling, mit dem wir Weihnachten feiern, für den wir sogar die Vormundschaft übernommen haben, weil die Abschiebung droht. Ich bin überzeugt, dass die meisten, die unterschrieben haben, ähnlich wie ich denken.«

»Auch vor dem Altar wurde weiterdiskutiert. »Herr Langenbach, Sie haben gesagt, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in Modularbauten auf drei Jahre befristet ist. Mit der Option, noch zwei mal zu verlängern. Das macht neun Jahre. Dann kommen die Nachmieter. Ist das so richtig?« - »Das ist richtig.« - »Und vorher hatten Sie gesagt, dass diese Bauten nicht temporär, sondern nachhaltig sind, aus Stahlbeton und Holz. Nehmen wir an, die halten hundert Jahre, dann würden die Bauten doch nur zu einem Zehntel für Flüchtlinge und zu neun Zehnteln für deren Nachmieter gebaut. Ist das richtig?« - »Das ist richtig«. - »Aber sind die Afrikaner dann nicht nur ein Mittel zum Zweck?«, wollte der junge Mann fragen, aber dann trat eine Journalistin mit einer ganz anderen Frage dazwischen. Und so blieb trotz aller Bemühungen der Kirche und der Politik, Klarheit zu schaffen, am Ende der Eindruck, dass es noch viele offene Fragen gab. •



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