Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195
Geschichten & Geschichte
Szenen aus der Nulpe von Werner von Westhafen |
Rolf Thierfelder war seit vielen Jahren nicht mehr in der Yorckstraße, obwohl er nebenan in Neukölln wohnt, und obwohl auch er ein ganz kleines Stück Kreuzberger Geschichte mitgeschrieben hat. Er hat nämlich, gemeinsam mit seinem Freund René Lammert, 1972 hinter dem Tresen eines Lokals gestanden, das beinahe 30 Jahre lang immer wieder von sich reden machte, und von dem alle mehr oder minder berühmten Kreuzberger irgendeine Geschichte zu erzählen haben: Die Nulpe. Thierfelders Geschichte beginnt Ende der Sechziger, als er mit René und Rich eine Theaterkneipe eröffnen möchte, woraufhin René vorschlug, abends erst einmal gemeinsam durch Berlins Kneipen zu ziehen, um, wie er es nannte, »Eindrücke zu sammeln«. Rolf und Rich aber waren die nächtlichen Ausflüge zu anstrengend. Renné zog alleine los und traf auf einer seiner Touren Jens Jessen, der einen Gemüseladen in der Yorckstraße anpachtete und im Juli 1971 das Galerie- und Kaffeehaus Nulpe eröffnete. Mit René und Rolf hinter dem Tresen. Schließlich wollte man die Welt verändern, wenn schon nicht mit Theater, dann doch zumindest mit Musik und Kunst an den Wänden. Alle sechs Wochen gab es eine Vernissage und ein Fass Freibier, das dafür sorgte, dass nicht nur Kunstinteressierte den Weg in die Yorckstraße fanden. An den Wochenenden spielten ein Jamaikaner, ein Spanier und ein Deutscher Gitarre, Schlagzeug und Kontrabass, eines Tages schob Klavierhelmut noch einen Flügel dazu. Der Pianist, der nun regelmäßig auftrat, hieß Boris und ließ jedes Mal pünktlich um zehn den Kopf auf die Klaviatur sinken, wo er augenblicklich einschlief. Die Kundschaft bestand aus Künstlern und Trinkern, die ständig zwischen Yorckschlösschen, Delirium und Nulpe hin- und herwanderten und auf die merkwürdigsten Ideen kamen. 1972 versuchten sie, quasi als Gegenmaßnahme zum Profirennen Rund um den Kreuzberg, das seit 1950 stattfand, eine weniger sportliche Variante des Radrennens ins Leben zu rufen: Beim Ersten Hornstraßenrennen mussten die langhaarigen Athleten bei jeder Start- und Zieldurchfahrt einen Schnaps trinken. Horst Runkel, der Herausgeber der Neuen Kreuzberger Zeitung, hielt die Zielleine, und Peter Blaar durfte dem Sieger die Medaille umhängen, auf der die Namen einer stattlichen Anzahl von Kneipen eingraviert waren, die dem Gewinner des Rennens ein Getränk seiner Wahl spendierten. Foto: Privatarchiv
Rudi Lesser, der Maler, der täglich zum Schachspielen kam, war nicht mehr aufs Rad gestiegen. Lesser war schon etwas wackelig auf den Beinen, und manchmal fegte er mit einer ungeschickten Bewegung die Figuren vom Schachbrett. Wenn einer seiner Gegner zu murren begann, sagte Rolf: »Nanana, immer mit der Ruhe, junger Mann. Der Rudi stellt die gleich alle wieder zurück auf die Stelle, wo sie vorher waren!« Was Rudi Lesser auch jedes Mal tat. Um anschließend mit einem Lächeln auf den Lippen den König seines Gegners zu schlagen. Foto: Privatarchiv
Ein Jahr später übernahm Thierfelder Willis Geflügelbar am Südstern und baute sie zur Kneipe um, deren unvergesslicher Name Büselmot von den Gästen in langer Nacht und demokratischer Abstimmung gefunden wurde. René Lammert blieb noch eine Weile hinter dem Tresen, auch die Gäste blieben: Peter Blaar, Rudi Lesser, Alf Trenk, Gerhard Tenzer, die neue Kreuzberger Boheme. Und Runkel schrieb weiter an seiner Zeitung und war so verliebt, dass er mit einem großen Drachen an der Leine und der Botschaft »Annette, ich liebe Dich!« vom Kreuzberg über den Wasserfall bis zur Nulpe wanderte. Und Idiotenharry, der von einer stolpernden Kellnerin ein volles Tablett Bier über den Kopf bekam, stand nass und verdattert mitten im Gastraum, während alles lachte und applaudierte, um nach einem kurzen Moment der Besinnung auf die Bühne zu gehen, das Mikro zu greifen und sich für den vielen Beifall zu bedanken. Nur der Dicke, der immer tanzen wollte und sich dabei gern die Hosen auszog, blieb irgendwann aus, weil sie seine Beinkleider in eine Ecke unter der Bank geschoben hatten, woraufhin er mit nacktem Hintern auf allen Vieren durch das Lokal kroch. Nach Lammert kamen andere Wirte, und am Ende, als die Kneipe schon nicht mehr Nulpe, sondern Enzian hieß, kam der Wahre Heino und versammelte noch einmal eine sehr illustre Gesellschaft in der Kneipe. Wirklich zu Ende ging die Geschichte der Nulpe aber erst jetzt. Denn erst jetzt, nach 45 Jahren, fließt tatsächlich kein Bier mehr, und es riecht nicht mehr nach Schnaps und Zigaretten. Es riecht nach Rasierwasser und Pommade. Staunend stand Rolf Thierfelder kürzlich vor einer Geschäftsauslage mit Fotografien gut frisierter Herrenköpfe. Aus seiner alten Künstlerkneipe war ein türkischer Frisiersalon geworden. • (sämtliche Fotos Privatachriv Thierfelder) |