Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195
Kanzlei Hilfreich
Die Geschichte von Necla II von Kajo Frings |
Eine Woche später traf Necla als Zeugin im Prozess gegen ihren Vater in Berlin ein. Jens sah sie im Gang, wo sie mit einer Frau diskutierte. Diese kam, als Necla sich entfernt hatte, direkt auf Jens zu und fragte: »Sind Sie der Verteidiger«? Jens Hilfreich nickte. »Ich bin Neclas Klassenlehrerin. Ich glaube, Sie sollten die Eltern mal fragen, womit sie dem Kind gedroht haben, falls es weiter schlechte Noten schreibt.« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick erklang auch schon die Lautsprecherstimme: »In der Sache gegen Birlik der Angeklagte und die Zeugen in den Sitzungssaal«. Die Staatsanwältin las die Anklageschrift vor: »Herr Jussuf Birlik wird angeklagt, im Zeitraum von … seine unter 18 Jahre alte Tochter, die mit ihm in einem Haushalt lebt und seiner Fürsorge und Obhut untersteht, mit einem gefährlichen Werkzeug geschlagen und gequält zu haben. Vergehen strafbar nach §§ 223, 223 a, 223 b, 225, 52, 52a…Strafgesetzbuch.« Es war die ganze Latte der einschlägigen Paragrafen vertreten: Körperverletzung, und zwar gefährliche, Misshandlung von Schutzbefohlenen… Hilfreich nutzte die Gelegenheit, seinem Mandanten etwas ins Ohr zu flüstern: »Herr Birlik, womit haben Sie Necla gedroht, wenn sie schlechte Noten schreibt?« »Nur so gesagt, sie muss in die Türkei zurück zu Großmutter, aber nicht ernst gemeint.« »Ich glaube, Sie sollten Necla gleich mal sagen, dass Sie sie nicht in die Türkei schicken werden, egal welche Noten sie in der Schule hat und egal, was sie heute aussagt.« Herr Birlik nickte. Der Richter belehrte die Zeugen, also die Jugendamtsmitarbeiterin, die Klassenlehrerin, die Schulärztin und Necla über ihre Wahrheitspflicht. »Herr Verteidiger, ich schlage vor, wir vernehmen erstmal die erwachsenen Zeugen. Vielleicht ersparen wir dann dem Kind die Aussage.« »Mein Mandant wird hier kein falsches Geständnis ablegen. Ich schlage umgekehrt vor, das Kind zuerst anzuhören und zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Ausnahme der Mutter.« »Wenn Sie das verantworten wollen, Herr Verteidiger. Ich bitte alle Anwesenden außer der Mutter hinaus.« »Also Necla, bist du mit dem Angeklagten hier verwandt?« »Mein Vater.« »Dann muss ich dich belehren, dass du gar nicht aussagen musst. Das darf auch nicht negativ ausgelegt werden. Aber wenn du aussagst, muss es stimmen. Hast du mich verstanden?« »Willst du aussagen?« Necla zögerte noch, dann sagte sie: »Ich will nicht nach Türkei« Jens stieß Herrn Birlik an. »Sag, was Wahrheit ist. Du musst nicht in Türkei. Wir dir das versprechen.« Aber Necla blieb skeptisch: »Bei Allah?« Herr und Frau Birlik sagten feierlich wie aus einem Mund: »Allah adına yemin ederim!« Und plötzlich begann Necla zu zittern, und wie Wasser aus einem Springbrunnen kamen die Tränen aus ihren Augen und die Wörter und Sätze aus ihrem Mund, zu einem Viertel in Deutsch und zu drei Viertel auf Türkisch, jedenfalls zu vier Viertel viel zu erregt und vollkommen unverständlich. Der Richter versuchte, sie zu unterbrechen, doch Necla redete und redete. Der Richter rief über ihren Ausbruch hinweg dem Anwalt zu: «Ich habe Sie angeschrieben, ob wir einen Dolmetscher brauchen, und Sie haben nein gesagt. Und jetzt das hier!« Hilfreich sagte laut und deutlich: »Bir dakika lütfen, Necla, bir dakika...« Necla erschrak, verschluckte sich an den letzten Wörtern und ihren Tränen und wurde plötzlich still. Der Vorsitzende raunzte Hilfreich an. »Jetzt fangen Sie auch noch an. Die Gerichtssprache hier ist Deutsch!« »Herr Vorsitzender. ´Bir dakika´ heißt ´eine Minute´, also soviel wie »Moment mal, jetzt lässt du mich mal reden.« Der Richter bezog den letzten Halbsatz auf sich, wollte wütend werden, bemerkte aber noch rechtzeitig seinen Irrtum und gab endgültig genervt auf. »Dann fragen Sie schon!« Hilfreich nutzte die Gelegenheit und sprach mit ruhiger Stimme auf das aufgeregte Mädchen ein: »Necla, du kannst ganz ruhig sein. Alle, die hier einen schwarzen Kittel tragen, passen auf, dass dir nichts passiert. Aber wir verstehen alle kein Türkisch. Du kannst doch ganz gut Deutsch, oder?» Necla nickte. »Der Richter hat dich vorhin gefragt, ob du hier aussagen willst. Du musst nicht, aber du willst doch.« Necla nickte. Und dann erzählte Necla von dem Morgen, als sie im Bett lag und ihre Schwester Elif wegen eines Streites mehrfach auf den Kleiderschrank geklettert und auf ihre Schwester gesprungen war, damit Necla zu spät in die Schule kommt und der Vater Necla in die Türkei schickt und Elif dann ein Zimmer für sich alleine hat. Und dass sie, Necla, erst gesagt hat, sie sei hingefallen. Aber dass die Frau vom Jugendamt gesagt hat, dass, wenn sie zugibt, dass ihr Vater sie geschlagen hat, das Jugendamt Vormund wird und sie nicht in die Türkei muss. Und dass sie mit einem Flugzeug nach Bremen fliegen darf. Und dann schaute sie ihre Eltern an. Ihr Gesicht hellte sich auf, aus der schuldbewussten Türkin wurde eine schuldbewusste, wenn auch rotzfreche Berlinerin: »Tut mir echt leid, manno!« Frau Birlik weinte, Herr Birlik schluchzte, und selbst der Richter hatte eine belegte Stimme, als er sagte: »Ich glaube, wir können die Beweisaufnahme abschließen. Herr Staatsanwalt, Herr Verteidiger, wenn Sie sich bitte kurz fassen würden. Und mit der Zeugin vom Jugendamt würde ich dann aber gern nochmal unter vier Augen reden.« • |