Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195
Geschäfte
Wolllust von Horst Unsold |
Der Stricksaal war Schicksal "Wolle" steht da, auf einem Schild, das etwas altmodisch über dem Gehweg hängt. Einfach Wolle, nicht etwa WollLust, wie der Laden eigentlich mit vollem Namen heißt. Auch im Schaufenster liegt nichts als Wolle, lauter kleine, akkurat geflochtene rote, gelbe und blaue Zöpfe aus Wolle. Neben einem großen Glas voller kleiner, kugelrunder, vielfarbiger Wollkugeln. Nur ein Wollpullover, eine Mütze und ein paar Socken im Fenster weisen darauf hin, was aus Wolle so alles werden könnte. Auch in den Regalen und Fächern des Wollparadieses mit seinen 50 verschiedenen Sorten in hunderten verschiedenster Farben drängt sich nichts auf. Da hängt ein feiner Kaschmirpullover an einem Kleiderbügel, ein Häkelkleid an der Wand, und über einer Puppe eine Stola aus schwarzer, dünner Wolle, die so viel Luft zwischen den Maschen lässt, dass sie auch als Negligé angelegt werden könnte. Und selbst von Gothic-Fans beäugelt wird. Wolle muss nicht rustikal sein, auch wenn solche Namen wie »Esslinger Sockenwolle« oder »Knackiger Salat« das nahe legen. Es gibt neben den dicken, mit etwas Phantasie noch nach Schaf duftenden Wollfäden auch die zarten Fäden der Shetlace Supersoft, mit denen sich so feine Spitzen häkeln oder stricken lassen, wie sie sonst nur in den Schleiern orientalischer Märchen vorkommen. Die Lace-Tücher, die Birgit gestrickt und an den Wänden aufgefächert hat, sind wahre Kunstwerke. Drei bis vier Wochen braucht sie für eines von ihnen. Für die Strickjacke, die einmal vorne im Schaufenster hing, brauchte sie Monate, und wenn der Kanadier nicht so oft wiedergekommen wäre und immer wieder danach gefragt hätte, dann würde dieses Unikat auch heute noch dort hängen. Auch die vier Schweizerinnen, die für einen Tag nach Berlin flogen, nur um in der Mittenwalder Straße Wolle zu kaufen, und die Amerikanerin, die sagte, es gäbe nur zwei Gründe, nach Berlin zu kommen: die Deutsche Oper und die WollLust, sie alle beweisen, dass Wolle mehr ist als nur dicke Norwegersocken. Foto: Dieter Peters
Birgit hatte schon mit 17 ihren ersten Pullover gestrickt, als das Stricken gerade wieder mal Mode war. Sogar Männer versuchten ihr Glück mit den Nadeln. Doch dass Birgit und Martin, die jahrelang mit der Ausbildung von EDV-Kräften ihr Geld verdienten und ihre Freizeit lieber in Heavy-Metal-Kneipen als mit Häkelnachmittagen verbrachten, zwanzig Jahre später mit Wollknäueln Geld verdienen würden, war komplett unwahrscheinlich und wäre nie passiert, wenn Martin nicht eines Tages zu seiner Birgit gesagt hätte: »Du sitzt ja nur noch vor dem Rechner! Lass uns doch mal einen Abend vor dem Fernseher faulenzen!« - »Ohne was in den Händen?«, rief Birgit, und besorgte sich Stricknadeln und ein Wollknäuel. Das war der Anfang. Wenige Monate später standen in der gesamten Wohnung Wollknäuel herum, und als Martin sich eines Nachts fast das Bein brach, weil er wieder einmal über diese 1,5 Kilo schweren Spulen stolperte, war klar, dass das mit der Wolle kein Privatvergnügen, sondern ein Geschäft geworden war. Birgit, die schon immer ein Faible für ausgefallene Wollsorten besaß, hatte damit begonnen, aus je drei oder vier einzelnen, dünnen Fäden eine eigene Wolle herzustellen und per Ebay zu verkaufen. Und das Geschäft lief. Es dauerte nicht lange, da wurde der erste Strickkreis ins Leben gerufen, ein Atelier eingerichtet, und während Birgit begann, Strick- und Schnittmuster für Pullover, Jacken, Schals und Tücher zu entwerfen und diese als so genannte Sets gemeinsam mit der passenden Wolle zum Verkauf anzubieten, kümmerte sich Martin um den Einkauf, die Website, und den Onlineshop, der am 8. März 2003, dem Internationalen Frauentag, eröffnete. Er baute eine Haspelmaschine, um die Wolle aus Italien, Peru und Irland von den Konen zu lösen und zu lockeren, hübschen Zöpfen zu flechten, während daneben vier Wickelmaschinen die Fäden zu kleinen, festen Wollknäueln aufwickeln. Mehr als 1000 Modelle hat die Wollkünstlerin inzwischen entworfen, tausend Muster und Schnitte, die vor allem eines von denen, die man in Frauenzeitschriften findet, unterscheidet: »Sie sind viel einfacher zu verstehen!« Die EDV-Trainerin versteht nicht nur etwas von Wolle, sondern auch von Pädagogik. Und wer aus China oder Japan kommt und kein Englisch, Französisch oder Deutsch spricht, um Birgits einfache Anleitungen zum Strickglück zu verstehen, der kann sich im Internet ein viel versprechendes Filmchen ansehen: »WollLust in 60 Minuten«. Wer auch jetzt noch nicht versteht und mit den Maschen und Mustern durcheinanderkommt, der kann freitags um 16 Uhr zum »Stricken a la carte« in die Mittenwalder Straße kommen. Die kleine Erste-Hilfe-Runde tröstet selbst die ungeschicktesten Vertreter des männlichen Geschlechts über die üblichen Anfängerfehler hinweg. Und dann ist da noch die »Lange Nacht des Strickens«, die bereits um 11 Uhr mittags beginnt, und bei der es darum geht, so wie einst schon in den guten alten Zeiten des Strickens stundenlang bei Kaffee und Keksen zusammenzusitzen und zu quatschen. Mindestens dreizehn exzessive Stunden lang, in denen die Damen und die eventuellen Herren ihre Stricknadeln bis Mitternacht kaum aus der Hand legen, lediglich zu Mittag, um sie gegen Messer und Gabel, und am Abend, um sie gegen ein Bier- oder Weinglas zu tauschen. Bis es Mitternacht ist und alle in irgendeiner Kreuzberger Kneipe landen, in der die Nacht noch ein bisschen länger ist als im Stricksaal der WollLust. • |