April 2017 - Ausgabe 188
Kreuzberger
Werner Hösel Ich hab einfach nur Glück gehabt
von Hans W. Korfmann
|
Dr. Hösl stand auf der Gneisenaustraße und rieb sich die Augen. Das Ganze hatte etwas unwirkliches, unwahrscheinliches. Er war 40 Jahre alt, hatte eine Frau, drei Kinder, einen Beruf, eine Praxis und ein Mietshaus für 40 Mietparteien. Ein bisschen fühlte es sich an, als wäre er am Ende seines Lebens angelangt. Ein glückliches Ende. »Ich habe einfach Glück gehabt. Mindestens drei Mal. Ich wollte auch nie Zahnarzt werden, nie Hausbesitzer. Ich wollte nicht so ein Mensch werden, der immer nur arbeitet und zwei Mal im Jahr Urlaub macht.« Foto: Privat
Die Mutter stellte sich den Sohn am liebsten als Bankkaufmann vor, weshalb Werner eines Tages mit seinem Zeugnis vor dem Chef der Sparkasse stand, der den Jungen kurz ansah und fragte: »Ist unsere Sparkasse rechts- oder linksrheinisch?« – Werner sagte: »Rechts!« – »Gut!«, sagte der Direktor, »Bestanden! Du kannst anfangen.« So kam es, dass Werner schon mit sechzehn in einem Anzug steckte. Er merkte bald, dass ihm Anzüge nicht passten, und fürchtete, »für immer und ewig hängenzubleiben in dieser spießigen Kleinstadt« am Rhein. Er nutzte die erste Gelegenheit, um auf die Fachoberschule nach Kaiserslautern zu gehen. Insgeheim aber wollte er nach Berlin, auf die Fachhochschule in der Badenschen Straße. Also bewarb er sich bei einer Berliner Bank um eine Stelle, stellte einen Antrag auf »Befreiung von der Wehrpflicht zur Arbeitsaufnahme in West-Berlin« und unterschrieb, sich bei seiner Rückkehr unverzüglich wieder beim Kreiswehramt zu melden und im Verteidigungsfall einzurücken. Dann zog er nach Berlin, wo er Bettina traf. Sein erstes Glück. Es war eine dieser »legendären, verrauchten Berliner Partys«, irgendwann spät in der Nacht oder früh am Morgen, in einem dieser verrauchten VW-Käfer, wo Bettina zu ihm sagte: »Du, ich bin erst 16, aber ich nehme schon die Pille.« Werner Hösl war zwanzig und wusste, dass man das Glück beim Schopf, manchmal aber auch etwas tiefer packen musste. Aber Bettina kam aus gutem Hause, ihr Vater hatte »so ein Kroko-Geschäft in Halensee und war Millionär. Ich glaube, sie wollte ihren Lebensstandard absichern, als sie sagte: Gut, ich heirate dich. Aber nur, wenn du Zahnarzt wirst.« Der junge Mann, der eigentlich Bankkaufmann werden sollte, nur Zahlen kannte und von Biologie nicht die geringste Ahnung hatte, bewarb sich gemeinsam mit 5000 anderen an der FU, landete auf Platz 125 und erhielt tatsächlich einen der begehrten Studienplätze für Zahnmedizin. Die Freundin fiel ihm um den Hals, die Verlobung war besiegelt - aber irgendwie war das »schon paradox, ich wusste ja nicht mal, dass es so ein Fach wie Biochemie überhaupt gab.« Doch was tat man nicht alles für die Liebe! Werner lernte Biologie, Chemie, Physik, Latein, die ersten drei Jahre »waren eine echte Herausforderung«. Zumal er neben dem Studium noch in einer Glaserei arbeiten und den Flughafen in Tegel verglasen musste, um sein Leben zu finanzieren. Wirklich bereut hat er die Jahre nie, »die Atmosphäre war toll, wir hielten zusammen, niemand sagte: ICH muss durchkommen, alle sagten: WIR müssen durchkommen!« Die Nächte verbrachten sie in den Kneipen, die Ferien in Griechenland, in der Türkei, in Portugal. Noch heute, dreißig Jahre später, vergeht kein Jahr, in dem er nicht ein paar Wochen an der Algarve verbringt. Auch Professor Hoffmann-Axthelm, der Verfasser des Lexikons der Zahnmedizin und Vater des berühmten Architekturkritikers, war ein Glück. Der alte Professor scheute sich nicht, seinen Studenten auch sonntagsmorgens anzurufen und zu fragen, wie weit er denn sei mit seiner Dissertation, und ob er nicht am Montag vorbeikommen könne. »Es dauerte kein halbes Jahr, und ich hatte auf dieser klapprigen Schreibmaschine meine Doktorarbeit geschrieben!« Im Februar 1980 war er fertig mit einer Ausbildung, die er nur der Freundin zuliebe begonnen hatte. Aber die Freundin war längst fort, es war Zeit für das zweite große Glück. Es kam wieder in der Gestalt einer Frau auf ihn zu. Er war gerade dabei, die dicken Bücher, die er für die Doktorarbeit ausgeliehen hatte, in die Bibliothek zurück zu bringen, da traf er die kleine Zahnarzthelferin, die er während seines Praktikums bei Dupke kennengelernt hatte. »Und was machst du jetzt so?«, fragte die junge Frau und legte den Kopf auf die Seite. Als Werner erzählte, dass er gerade sein Studium abgeschlossen habe, sagte sie: »Wenn du eine Praxis suchst, dann weiß ich was für dich.« Sie erzählte ihm von Dr. Wende, der seine Praxis in der Gneise- naustraße aufgab. Dr. Hösl wusste bereits, dass man das Glück beim Schopf packen muss, lieferte die Bücher ab und ging in die Gneise- naustraße. Dort stand »Schwester Doris«, die Sprechstundenhilfe, und lächelte ihn an. »Ich hatte sofort das Gefühl, dass wir uns sympathisch waren.« Da Doktor Wende frei hatte, investierte Dr. Hösl zehn Mark in einen Blumenstrauß, fuhr am selben Nachmittag nach Steglitz, klingelte und überreichte der Dame des Hauses seine Nelken. Dr. Wende klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Sie bekommen die Praxis.« Eine Zeit lang arbeiteten sie zusammen in der Praxis, der Assistenzarzt Dr. Hösl, der Zahnarzt Dr. Wende und die Schwester Doris, die schon ewig bei Dr. Wende war. Sie war die Gute Fee der Praxis, auch als Dr. Wende in den Ruhestand ging und Dr. Hösl die Praxis im Juli 1982 übernahm. Als sie sich 2008 nach 44 Jahren aus der Gneisenaustraße verabschiedete, flossen Tränen. Im Grunde war es ihre Praxis, »sie hatte das Vertrauen der Patienten. Die Leute im Wartezimmer waren alle Nachbarn, lauter Kreuzberger. Und so ist es heute noch.« Natürlich traf der neue Doktor eines Tages auch eine neue Frau. 1983, just an seinem 42. Geburtstag, heiratete das junge Paar. Die Gattin hatte auf dem Datum bestanden, damit er diesen Tag auch niemals vergaß. Zwei Jungen und ein Mädchen kamen zur Welt. Alles schien wunderbar eingerichtet für den Rest des Lebens. Nur dieses alte Haus passte nicht zu seiner nagelneuen Praxis! Es war nicht repräsentativ. Also setzte sich der ehemalige Bankkaufmann an den Schreibtisch und rechnete aus, dass es das Beste wäre, einen Kredit aufzunehmen und das Haus zu kaufen. Doch als er bei der Hausverwaltung am Tauentzien anfragte, schüttelte der Verwalter energisch den Kopf. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als der Besitzerin persönlich die Aufwartung zu machen, einer vornehmen Dame aus Bukarest, die mit zwei Gouvernanten in Charlottenburg wohnte, noch andere Häuser besaß und jeden Freitag zum KaDeWe fuhr, um frischen Zander einzukaufen. Der junge Doktor vermied es, seine Pläne gleich auf den Tisch zu legen, er beschloss, die alte Dame künftig auch zu ihren Geburtstagen zu besuchen. Wobei er nicht vergaß, seine drei niedlichen Kinder mitzunehmen, die schon bald »Oma Ilie« zu ihr sagten, was Oma Ilie ganz reizend fand. Und der Doktor auch. So verging Jahr um Jahr, die alte Dame wurde 85, dann 90, schon mehrmals hatte der junge Doktor angeboten, ihr die Last des alten Hauses abzunehmen, »aber sie war kerngesund« und schien keinerlei Anstalten zu machen, zu verkaufen. Bei ihrem 95. Geburtstag hielt sie die Kinder des jungen Doktors schon für ihre Enkel, überhaupt begann sie, die Dinge durcheinander zu bringen. Da wurde der Doktor nervös, und irgendwann an diesem legendären 95. Geburtstag fragte er: »Haben Sie sich das mit dem Haus noch einmal überlegt?« Sie sah den Doktor überrascht an. »Aber das haben Sie doch schon längst.« – »Wie bitte!«, stammelte Werner Hösl. – »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief die alte Dame, erhob sich, ging zum Telefon und rief ihren Verwalter an. »Sagen Sie, haben Sie dem Herrn Doktor Hösl das Haus denn immer noch nicht überschrieben? Das darf doch wohl nicht wahr sein, sofort überschreiben Sie das Haus auf die Kinder von dem Herrn Dr. Hösl!« - Man vereinbarte eine Leibrente von 6000 Mark monatlich – eine »überschaubare Summe« bei einer Dame, die bereits ihren 95. Geburtstag hinter sich hatte. Drei Jahre später stand der Doktor dann vor dem Haus in der Gneisenaustraße und fragte sich, wie das alles gekommen war. Er dachte an Bettina, das Studium, die Zahnarzthelferin, Dr. Wende, -lauter Zufälle, die sich am Ende als glückliche Zufälle erwiesen. Nur dieses Haus sah aus wie ein Unglück, wie eine einzige Bruchbude. Inzwischen ist allerdings ein Vierteljahrundert vergangen. Das Haus hat eine neue Fassade, ein Fahrstuhl bringt die älteren Patienten in die Praxis, kürzlich wurde die letzte der vierzig Wohnungen renoviert. 25 Jahre hat das alles gedauert. Aber ein Glück ist es trotzdem. Seine Kinder wohnen jetzt alle im Haus, und die Tochter wird am Ende dieser Geschichte eines Tages die Praxis übernehmen. »Und irgendwann ist diese Praxis vom Dr. Wende dann 100 Jahre alt.« • |