April 2017 - Ausgabe 188
Geschichten & Geschichte
Ein Weltstar in Kreuzberg von Werner von Westhafen |
Er wollte nicht den Ku´damm, sondern die Arbeiterviertel sehen. Wo genau der berühmteste Schauspieler aller Zeiten im März 1931 war, wenn er nicht im Adlon schlief, nicht im Kino, im Theater oder in Carows Lachbühne am Weinbergsweg war, lässt sich heute kaum noch sagen. Alle offiziellen Weggerährten, die ihn kurz vor der Machtergreifung des großen Diktators eine Woche lang durch Berlin begleiteten, sind heute längst dort, wohin sich am Ende - nach 88 langen Lebensjahren - auch der unsterbliche Charles Spencer Chaplin begeben musste. Es könnte allerdings sein, dass eines jener Kinder, die den Leinwandstar zufällig auf ihren Ausflügen trafen, noch am Leben ist, und dass sich noch einmal jemand zu Wort meldet, der ihn am Kreuzberg, vielleicht am Denkmal im Viktoriapark, in der Destille, im Ballhaus Resi oder in einem anderen Vergnügungslokal im Süden der Stadt getroffen hat. So wie der 96jährige Julius Markschiess van Trix, der gerade mit einem Freund auf der Waisenstraße Fußball gespielt hatte, »als plötzlich ein großes schwarzes Auto angefahren kam, ein Riesenbrummer«, aus dem lauter »feine Pinkel stiegen«. Einer von ihnen war der Mann mit Mantel, Hut und Spazierstock -Charlie Chaplin. Der Regisseur war längst ein feiner Herr und wollte wissen, was in der Berliner Jugend vor sich geht. Er hielt seinen Dolmetscher an, die beiden Jungen in ein Gespräch zu verwickeln. Für Markschiess van Trix, der einst die Rohrpost im Ballhaus Resi bediente und schon Theaterluft geschnuppert hatte, war das Treffen eine schicksalshafte Begegnung: Aus Julius wurde Jonny, Artist, Schauspieler und Buchautor. Dass Chaplin sich eher für das Milieu als für die glanzvollen Paläste interessierte, eher für die Armen als für die Reichen, bezeugen schon seine Filme. Schon 1922, bei seinem ersten Besuch in Berlin, wollte er die »Armenviertel Berlins besuchen«, und unternahm »mehrere Nachtbummel durch die Berliner Arbeiterviertel«, was er weitgehend unbehelligt tun konnte, denn Chaplin war den meisten Berlinern noch völlig unbekannt. Schon ein Jahr später aber, als die Inflation bereits auf ihren Höhepunkt zusteuerte und ein Laib Brot 50 Milliarden Mark kostete, erschien in der Vossischen Zeitung eine große Werbeannonce, die für 7 Uhr die Uraufführung jenes Films in den UFA-Lichtspielen am Tauentzien ankündigte, der Chaplin berühmt machen sollte: The Kid. »Vorverkauf 10-11 Uhr, Ehren-und Freikarten ungültig.« Chaplin wurde weltberühmt. Zehn Jahre später konnte er keinen Schritt mehr alleine gehen. Seine zweite Reise durch Europa war ein einziger Triumphzug. Seine Ankunft in Berlin sollte geheim gehalten worden, so wie später die amerikanischer Präsidenten, doch zufällig saß ein Berliner Redakteur mit Chaplin im Nachtexpress von Amsterdam nach Berlin, so dass die B. Z. am Morgen des 9. März auf ihrer Titelseite verkünden konnte: »Charlie kommt!« Sogar die Ankunftszeit seines Zuges um 17 Uhr auf dem Bahnhof Friedrichstraße war kein Geheimnis mehr, der Dichter Erich Kästner griff eiligst zur Feder und verfasste ein Begrüßungsgedicht. Eine Abteilung Bahnpolizisten sorgt für Ordnung. Etwa 100 zugelassene Gäste haben sich gegen 17.00 Uhr eingefunden. Der Zug läuft ein. Aus dem Fenster eines der ersten Wagen winkt der ersehnte Gast. Schupos drängen die Masse ab. Leute bringen Hochrufe auf den Star aus, umdrängen ihn. Ein kleines Mädchen mit Tulpen versucht vergebens, seinen Strauß zu übergeben.« Draußen, vor dem Bahnhof auf der Friedrichstraße, warten Tausende und begrüßen den Star mit »Hoch Charlie!« Der Schauspieler wirkt verwirrt von dem Trubel und scheint froh zu sein, als er im Auto sitzt, das sich nur mühsam seinen Weg zum Adlon bahnen kann. In seiner Autobiographie schreibt Chaplin später von einem Besorgnis erregenden, »wilden Enthusiasmus der Menschenmengen«. Auch vor dem Adlon warten Massen, und was Chaplin in seinen Lebenserinnerungen noch dezent verschwieg, ergänzte später Hedda Adlon, die Frau des Hotelchefs: Wild gewordene Souvenirjäger hatten sogar die Hosenknöpfe von Chaplins Hosen gerissen, »mit beiden Händen die Hose festhaltend, floh er in den Fahrstuhl«. Doch schon wenig später trat der Star freundlich lächelnd auf den Balkon des Hotels, immer wieder musste er sich der jubelnden Menge zeigen. Es scheint, als habe er, genau wie der Tramp in den Filmen, selbst für seine unangenehmen Mitspieler immer noch ein Lächeln übrig. Auch das Lichtenberger Tageblatt zeichnet am 11. März einen lächelnden Chaplin. Im Mittelpunkt sitzt die Diva Dietrich, »zu ihrer Linken stehend, ganz Gentleman und bescheiden - das Genie.« Auch aus dem Schauspielhaus wird berichtet, wie sich Chaplin im Schutz der Dunkelheit während des 2. Aktes unter die Zuschauer geschlichen hatte, wo er eine ganze Weile unbemerkt blieb, bis ihn einer der Schauspieler, durch den Vorhang lugend, entdeckte, »auf die Bühne stürzte und rief: LICHT! LICHT! (...) Einen Augenblick Stille, dann: 4000 Menschen! 4000 Menschen brechen in Schreien und Johlen aus, in einem nicht endenwollenden Applaus, trampeln mit den Füßen, schreien: Chaplin, Chaplin!« Wahrscheinlich wird sich Charlie, der eine ganze Woche in Berlin verbrachte, sehnsüchtig an die Spaziergänge des Jahres 1922 erinnert haben, als er noch völlig ungestört die alte Kreuzbergstraße entlangwandern konnte bis zu jenem merkwürdigen Wasserfall, der inmitten der Stadt so unwirklich wirkte wie seine heimischen Filmkulissen in Hollywood. Und wo er, ganz unbehelligt und unbeobachtet, in der Milchkuranstalt am Viktoriapark einem hübschen Kreuzberger Fräulein am Nachbartisch einst einmal freundlich zugezwinkert hatte. Heute wohnt nicht weit von der Markthalle eine Frau, die mit dem größten Schauspieler aller Zeiten nicht nur ein Glas Milch getrunken hat. Sie ist tatsächlich verwandt mit Charles Spencer Chaplin. Ihren Namen aber will sie niemandem verraten. • |