Kreuzberger Chronik
Oktober 2016 - Ausgabe 183

Geschichten & Geschichte

Willy Römers späte Ehrungen


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von Werner von Westhafen

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Diese Geschichte führt aus der Mitte Berlins über die Belle Alliance und die Körtestraße in Kreuzberg bis nach Charlottenburg. Am Ende seines Lebens steht Willy Römer in einer winzigen Speisekammer, in der er sich – wie so viele Hobbyfotografen der Sechzigerjahre – eine Dunkelkammer eingerichtet hat. Aber Römer ist kein Hobbyfotograf. Er hat ein riesiges Archiv im Keller, mit dem Kohlenkasten trägt er Tausende von Glasplatten nach oben, um sie zu ordnen. Für eine Nachwelt, die noch immer kein Interesse zeigt an seinen Bildern. Niemand ahnt, welchen Schatz er in seinem Keller hortet.Ein Vierteljahrhundert verbringt er zwischen Keller und Speisekammer, sichtet und beschriftet Bilder, von denen die ältesten schon 70 Jahre alt sind.

Schon 1903, als Fünfzehnjähriger, tritt Willy Römer, der Sohn des Schneidermeisters Jakob aus der Lothringer Straße, die Lehre bei der Berliner Illustrationsgesellschaft am Anhalter Bahnhof an. Karl Delius, der künstlerische Leiter der Agentur, der dem Schneiderjungen nicht nur das Entwickeln und Vergrößern, sondern auch den fotografischen Blick für das Wesentliche beibrachte, rief Römer 1908 zu sich in die Agence de Reportage Photographique Charles Delius in der Avenue Trudaine Nr. 31, wo der junge Fotograf das Pariser Straßenleben am Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentierte.

Dann kreuzt der Erste Weltkrieg Römers beruflichen Werdegang, doch der leidenschaftliche Fotograf nutzt auch jetzt jede freie Minute, um mit der Plattenkamera loszuziehen. Während die Kollegen Kriegsschauplätze und –geschehen festhalten, fotografiert Römer das alltägliche Leben in den Straßen von Warschau und den Dörfern der Umgebung, betritt die spärlich beleuchteten Wohnungen russischer Bauern und Handwerker. 350 gläserne Negative bringt er aus dem Krieg heim, die erst hundert Jahre später in einer Ausstellung gezeigt werden.

Pünktlich zum Spartakusaufstand ist der junge Berliner zurück in der Heimatstadt, fotografiert die Barrikadenkämpfe, hält den Trauerzug zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg für die Ewigkeit fest. Zu Beginn der Zwanzigerjahre kaufte er Robert Senneckes Photothek in der Belle-Alliance-Straße 82, dem heutigen Mehringdamm Nummer 55, samt dessen Wohnung und dem respektablen Herrenzimmer aus Eichenholz. Gemeinsam mit Walter Bernstein, einem Kollegen aus Pariser Zeiten, entwickelt er die Photothek Römer & Bernstein zu einem erfolgreichen Unternehmen. Sekretärinnen, Laboranten und Fotografen sind angestellt, um die Ereignisse in der sich

rasant verändernden Stadt festzuhalten, Boten gehen in der Firma ein und aus, um die Bilder ins Zeitungsviertel zu bringen. Um das Glück vollkommen zu machen, heiratet er Charlotte Michel, eine stille Frau, die bei ihrer Tante aufwuchs, und bekommt eine Tochter. Fotos vom Urlaub zeigen die Bernsteins und die Römers in der Sommerfrische in Ahlbeck. Sus der Geschäftsfreundschaft ist eine Freundschaft fürs Leben geworden. Es sieht aus, als hätten alle ihr Glück gemacht.

Doch am 1. April 1933 steht eine Truppe von SA-Männern vor der Tür mit der Nummer 82 und verwehrt Walter Bernstein den Zugang zu seinem Arbeitsplatz. Von einem Tag auf den anderen darf keine deutsche Zeitung mehr Bilder bei der „Judenfirma“ bestellen, innerhalb kurzer Zeit steht die Photothek vor dem Konkurs, Geräte und Ausrüstung, sogar Teile des Privatbesitzes - darunter auch das eichene Herrenzimmer - werden von den Nazis „gepfändet“. 1937 verschwindet die Firma endgültig aus dem Handelsregister.

Römer zieht mit der Familie und dem Archiv in eine kleine Wohnung in der Körtestraße Nummer 2 und muss als Reporter für die Nazis in den Krieg ziehen. Sein Freund Bernstein kann zurück bleiben. Er rettet seine Bilder in die Friedrichstraße 214, wo er eine heimliche Anstellung bei der Agentur Braemer & Güll gefunden hat, doch im Februar 1945 werden alle seine Bilder ein Raub der Flammen.

Römers Haus in der Körtestraße bleibt ungetroffen. Er fotografiert weiter und richtet sein Objektiv auf die Zerstörung, den Reichstag, die zerschossenen Kirchen und natürlich auf die Menschen, die in den Trümmern wohnen. Während andere schon bald den Wiederaufbau, die Trümmerfrauen, die Rückkehr des Lebens in der zerstörten Stadt dokumentieren, hält Römer „Bilder der Trostlosigkeit“ fest.

Am 26. Oktober 1979 stirbt Römer vergessen im Alter von 92 Jahren. Die kleine Todesanzeige unterschreiben nur drei Menschen: seine Frau, seine Tochter, sein Schwiegersohn. Keine Ausstellung, kein Nachruf erinnert an ihn. Einige kurze Zeitungsartikel, die anlässlich seines 80. Geburtstages erschienen waren, blieben die einzige Würdigung. Und niemand möchte den Hinterbliebenen, die noch immer in bescheidenen Verhältnissen leben und zuerst Willys Münzsammlung und dann auch seine Kameras verkauften – heute steht Römers Ausrüstung in einem Museum in Tokio! – etwas für die Bilder geben: Weder Ullstein noch Bertelsmann, weder das Bundespresseamt noch das Landesarchiv, weder die Berlinische Galerie noch das Jüdische Museum möchten für die Bilder bezahlen. Bis 1981 der Professor und Kulturhistoriker Diethart Kerbs eine Anzeige in einer Fachzeitschrift liest: »Bedeutendes Bildarchiv zu verkaufen. Großer historischer Wert. Über 60 000 Fotos und 7000 Porträts deutscher Geschichte von 1906-1936. Alle Ereignisse vom Bildjournalisten festgelegt.«

Berührt und fasziniert von der Geschichte Römers versucht Kerbs, den Frauen beim Verkauf zu helfen, doch es scheint sich niemand für das Archiv zu interessieren. Zumindest möchte niemand bezahlen. Daraufhin kauft Kerbs selbst und veröffentlicht gemeinsam mit Dirk Nishen, der einen Verlag in der Methfesselstraße besitzt, in der Edition Photothek, die ersten Fotografien Römers. 2004 organisiert Kerbs eine erste umfassende Ausstellung, ganzseitige Zeitungsartikel erscheinen, das Radio berichtet.

Allmählich wird deutlich, was Römer hinterlassen hat, und allmählich bekunden auch die Berliner Kulturinstitutionen Interesse an dem seltenen Fundus, unter ihnen auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. 2009 kaufte sie die Sammlung auf und begann damit, die Bilder zu digitalisieren und zu archivieren, um sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können. Für Honorare, von denen Römer allerdings nur träumen konnte. •




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