Kreuzberger Chronik
Oktober 2016 - Ausgabe 183

Herr D.

Der Herr D. verliert den Appetit


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von Hans W. Korfmann

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Als der Herr D. Post bekam


Der Herr D. öffnete den Briefkasten. Sofort fiel ihm der Briefumschlag entgegen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht las er den Namen des Absenders.

„Aber jetzt machen Sie doch nicht so ein Gesicht!“, sagte die Nachbarin. „So hoch kann die Rechnung doch gar nicht sein.“

„Das ist keine Rechnung, Frau Nachbarin!“, sagte der Herr D.

„Das Finanzamt?“, fragte die Nachbarin.

„Noch schlimmer!“, sagte der Herr D. „Post vom Regierenden!“

„Oh!“, sagte die Nachbarin. „Das ist aber wirklich ärgerlich. Die Gebühr zahlt der Empfänger?“

„Wenn ich mir ausrechne, was das kostet, wenn dieser Milchbubi mit seiner Streberfrisur millionenfach Briefe voller Lügen verschickt, nur um wiedergewählt zu werden, da wird mir doch speiübel!“ Demonstrativ zerkleinerte der Herr D. den Brief in viele kleine Schnipsel.

„Das braucht niemand zu lesen! Noch nie haben Politiker so viel gelogen. Sehen Sie sich mal diese Wahlplakate an: Da steht immer das exakte Gegenteil von dem, was die wirklich tun. Und dieser Narzissmus, dieser schamlose Lokalpatriotismus! Berlin bleibt fleißig! Berlin bleibt weltoffen! Berlin bleibt schlau! Berlin bleibt bezahlbar! Da vergeht einem doch der Appetit. Von wegen Fleiß: In keiner Stadt sind die Grünanlagen so heruntergekommen wie in Berlin. Hier werden Bäume gefällt und Sträucher bis auf den Erdboden gestutzt, nur damit man die nächsten fünf Jahre keinen Gärtner bezahlen muss.“

„Herr D., jetzt übertreiben Sie aber!“

„Das hat mir einer vom Grünflächenamt erzählt. Und von wegen Weltoffenheit: Offen für die Welt sind nur die Hotels und die Restaurants, nicht mehr die Häuser. Menschen anderer Länder wurden hier noch nie so argwöhnisch beobachtet wie jetzt.“

„Sie sollten eine Partei gründen!“

„Und was die Schlauheit angeht. Meint er sich selbst? Oder diese kleinen Gangster mit ihren kleinen Unternehmen, die in Scharen kommen, um mit ihrer Bauernschläue ehrliche Berliner übers Ohr zu hauen? Es gab da ein Plakat von der Partei: Mindestgehirn für alle Bürger! Mindestgehirn für Politiker würde mir reichen!“

„Aber Herr D., Sie werden ja richtig böse!“

„Das liegt am Alter. Irgendwann lässt man sich nicht mehr verarschen. Und dann: Berlin bleibt bezahlbar! Die offensichtlichste und dümmste Lüge. Das Wohnen, das Essen, das Schwimmen, das Kranksein, die Freizeit, die Bildung, die Kultur – alles ist viel, viel teurer geworden, seit diese Schlauheit in die Stadt gekommen ist. Irgendwann werden wir im Wald Eintritt zahlen vor lauter Schlauheit.“

„Herr D., ich gehe mal lieber. Sie werden ja richtig unangenehm. Dabei waren Sie doch immer so charmant!“

„Ich bin eben echter Berliner. Und nicht so ein Tempelhofer.“•

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