November 2016 - Ausgabe 184
Geschichten & Geschichte
Ein Kreuzberger Kauz von Hans W. Korfmann |
Er war eine Legende. Und ist es noch immer: Kurt Neuburger. Gottfried Benn schrieb 1948: »Heute wundern sich die Leute noch über den Neuburger, aber einmal werden sie ihn bewundern.« Benn irrte. Die Leute wunderten sich auch 50 Jahre später noch. Am 7. April 1996 berichtete der Berliner KURIER, dass der Dichter keine Ruhe auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof finden könne. Die »Beisetzung des Kreuzberger Kiez-Literaten, der vor einer Woche mit 93 an Lungenentzündung gestorben war (KURIER berichtete), wurde abgesagt. Mit der Zeremonie war das Bestattungsinstitut Grieneisen beauftragt. Wir mußten die Beerdigung auf unbestimmte Zeit verschieben, erklärte Grieneisen-Chef Rolf-Peter Lange. Zu den Gründen will er sich nicht äußern.« Der verschwiegene Grund waren Begräbniskosten in Höhe von 10 000 Mark, die aus dem Nachlass des verstorbenen Literaten bezahlt werden sollten. Darauf wollte sich das Beerdigungsinstitut »nicht einlassen«. 1924 gründete er die Wochenzeitschrift Fanfare »für Freies Menschtum« - das »Offizielle Organ des Kultur-Cartells«, wie die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet. Es bot Autoren und Meinungen aller Farbschattierungen zwischen Rot und Braun Platz, denn der Fanfare ging es weniger um politische Positionen als um künstlerische und philosophische Fragen. Da die Zeitschrift jedoch gleichzeitig ein Sprachrohr Homophiler war und nicht nur nationalistisches Gedankengut verbreitete, sondern, nach Neuburgers Worten, »seit der Ausgabe Nummer 24 konsequent gegen alles Hakenkreuzlertum Stellung« bezog, war es ratsam, die Publikation wieder aufzugeben. Ab 1926 arbeitete Neuburger wieder am Theater, dann zog er sich allmählich ganz aus Berlin zurück, um in den Seebädern an der Ostsee die Kapelle Neuburger zu gründen, wo er, wenn nötig, auch in Nazi-Stiefeln auftrat. Dennoch blieb er vorsichtig und legte sich ein Segelboot zu, um jederzeit die Flucht nach Schweden antreten zu können. Tatsächlich geriet Neuburger 1936 »ins Fadenkreuz der Gestapo« und verbrachte eine Nacht im Folterkeller der Prinz Albrecht Straße. Wie er es schaffte, wieder herauszukommen, blieb sein Geheimnis. Vermutlich griff er in die Trickkiste, die ihn schon einmal vor den Nazis gerettet hatte, als er auf das verräterische Taufdatum des jüdischen Großvaters, der nur zum Schutz vor den Nazis im hohen Alter noch zum Christentum konvertiert war, einen Tintenklecks träufelte. Nach dem Krieg stellte Neuburger einen Antrag auf Entschädigung als politisch Verfolgter, doch die Behörden schenkten ihm wenig Glauben. Lediglich einem Antrag auf Entschädigung für von russischen Soldaten gestohlene Akkordeons und Trommeln und die Entwendung seiner Manuskripte aus dem Banksafe am Belle Aliance Platz wurde stattgegeben: 1963 erhielt Neuburger 840 Mark. Diese und ähnliche Anekdoten erzählte Neuburger, der sich nach dem Krieg auf die Schriftstellerei verlegt hatte, hin und wieder in der Kreuzberger Literaturwerkstatt in seiner Wohnung im 4. Stock. Hier wurde er zur Legende, zum »Sokrates von Kreuzberg«. Fast jeden Abend »pilgerten« irgendwelche Nachwuchsautoren zur Solmsstraße 40, dem Haus, das einst seiner Tante Röschen gehört hatte. Einmal wöchentlich traf sich im Zimmer mit dem grünen Kachelofen und den riesigen Biedermeiersofas ein Zirkel aus 20 bis 30 Autoren zum intellektuellen Austausch. Der alte Reisekoffer mit »den knallroten Banderolen der Kapelle Neuburger« enthielt keine Noten mehr, sondern Manuskripte, die ganze Wohnung war voll mit Papier. Es wurde geraucht, gestritten, getrunken, gelacht - Nächte voller Wortgefechte. Neuburger trat im Literarischen Coloqium auf und in einem Film mit Rosa von Praunheim. Er veranstaltete Lesereihen, das Fernsehen berichtete, die Zeitungen schrieben. Und als niemand sein 550 Seiten dickes Romanmanuskript über den »Trip des Eutrapelos« druckte, las er, vielleicht schon von seniler Bettflucht beflügelt, im berühmten Go in in der Leibnizstraße den gesamten Roman »in einem Guß« – von Mittwochabend bis Donnerstagabend. Der Autor des Spandauer Volksblattes schwankte zwischen Bewunderung und Misstrauen, wenn er schrieb, wie gegen 5 Uhr morgens auch die letzten Zuhörer einschliefen, und wie morgens zum Frühstück neue erschienen; Wie der Hausherr Vijoy Batra aus Solidarität die Nacht durchwachte, jedoch gegen 18 Uhr stöhnte, »dass 25 Stunden Zuhören wohl anstrengender ist als Vorlesen«. Als am Donnerstagabend gegen 22.30 die letzte Seite gelesen war, »ließ es sich der rüstige 66er nicht nehmen, die da-capo-Rufe der Zuhörer mit zwei Zugaben zu quittieren«. Gedruckt wurde auch dieser Roman nicht. Ingeborg Drewitz, Vize-Präsidentin des deutschen P.E.N.-Zentrums, lobte den »Kreuzberger Kauz«, der »kein Wort zu viel, keines zu wenig« schrieb. Sie stellte aber auch die berechtigte Frage, warum ihm der große Erfolg verwehrt blieb. Warum er es »so schwer hatte, sich durchzusetzen?« Sie findet keine wirkliche Antwort, im Tagesspiegel schreibt sie 1977 etwas resigniert: »Man könnte von der Tragik eines Könners reden.« • Literaturnachweis:Jens Dobler, Von anderen Ufern, 2003, Gmünder; Peter J. Fabich aus »Haus mit Einfällen«, Edit. Rollwenzel, 2006 ; Bildnachweis:Nikolaus Tscheschner, |