Kreuzberger Chronik
November 2016 - Ausgabe 184

Kanzlei Hilfreich

Boris


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von Kajo Frings

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Der Rechtsanwalt Jens Hilfreich sollte den 12jährigen Boris vertreten, der sich in der Obhut des Jugendamtes befand und in ein Heim oder zu Pflegeeltern kommen sollte. Eine Lehrerin der Lenau-Schule war in die Kanzlei gekommen und hatte um seine Unterstützung gebeten. Die Eltern des Jungen gingen nicht mehr ans Telefon. Das Jugendamt war - überraschender Weise - in diesem Fall völlig unbürokratisch und stellte dem Anwalt sogar die Akten zur Verfügung.

Der Fall war beeindruckend: Vor etwa vier Jahren hatte die Mutter aufgehört, sich mit ihrem ständig betrunkenen Ehemann darüber zu streiten, wer mit dem Hund Gassi geht oder wer den Müll runterbringt; Wer die Kinder für die Schule fertig macht und zur Bank oder Post geht, um die Stütze abzuheben. Sie beschränkte sich darauf, morgens zur Toilette zu gehen, sich aufs Sofa zu setzen und einen der damals neuen Fernsehsender anzuschauen. Hans Meiser, Geert Müller Gerbes, David Hesselhoff als »Knight Rider«, Erika Berger und »Ein Schloss am Wörthersee«. Sie hörte auf zu essen, zu kochen, die Kinder zu wecken. Sie schaltete nur noch den Fernseher an.

Der kleine Boris bekam allmählich Angst um seine Mutter. Der Vater kam nur noch gelegentlich, um zu sehen, ob Geld da war. Vier Jahre lang stand Boris auf, wenn der Hund winselte und ging mit ihm Gassi. Vier Jahre lang machte er seine kleine Schwester schulfertig. Er machte Müsli - auch für die Mutter. Dann ging er selbst zur Schule. Er kam nach Hause, kochte Mittagessen, dann machte er die Hausaufgaben mit der Schwester. Er leerte den Briefkasten, machte die Wäsche. Er räumte auf, ging noch einmal mit dem Hund raus. Und wenn der Vater zu Besuch da gewesen war, räumte Boris die Flaschen und Gläser weg. Aber eines Tages wurde er krank. Die Schwester kam ungewaschen und verspätet in die Schule, der ganze Schwindel flog auf, und die Lehrerin informierte das Jugendamt.

Jens Hilfreich traf im Gericht auf eine völlig lethargische Mutter. Der Richter war nicht unfreundlich und erklärte Boris, der jetzt zwölf Jahre alt war: »Weißt du, worum es hier heute geht? Es geht um den Entzug der elterlichen Sorge.«

Boris hatte die Frage erwartet und sagte ganz ruhig zu dem Richter: »Ich hab mir das genau überlegt. Ich bitte Sie, mir die Sorge für meine Eltern zu entziehen.« Jens Hilfreich war gerührt und verzichtete auf einen eigenen Antrag.

Es war leichter als gedacht, eine Familie zu finden, die Boris, seine Schwester und den Hund aufnahm. Manchmal dachte Jens Hilfreich darüber nach, wie diese Geschichte wohl ausgegangen war. Er schaute in die Akten und gab die Namen bei Facebook ein. Aber von Boris hat er nie wieder etwas gehört. •


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