Kreuzberger Chronik
Juni 2016 - Ausgabe 180

Strassen, Häuser, Höfe

Die Fidicinstraße Nr. 4


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von Werner von Westhafen

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Die Tempelhofer Vorstadt jenseits der Berliner Zollmauer war eine ruhige Gegend. Auf den Tempelhofer Bergen drehten sich noch Windmühlen für die Bauern der Tempelhofer Felder, auf den Feldwegen fuhren Ochsenkarren. 1836 siedelte sich zwischen Müllern und Bauern die Bockbrauerei an und eröffnete ein bald weltweit bekanntes Gartenlokal. Als 1862 ein Engländer namens Hobrecht einen Plan für den Ausbau Berlins zeichnete und die neuen Straßen durchnummerierte, wurde der Feldweg an der Brauerei zur 23. Straße. 1890 erbte die Straße am Bergrücken im Süden der großen Stadt den Namen des Historikers Carl Ernst Fidicin.

Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0230079, Foto: J. Ellinghaus
Nun tauchten Grundstücksspekulanten in der friedlichen Gegend auf und machten aus den einfachen Vorstadtbauern die berüchtigten »Tempelhofer Millionenbauern«. Gegenüber der Brauerei wurde ein Wasserturm errichtet, um die neuen Häuser an den neuen Straßen zu versorgen. Ein Jahr später konnte auch die Brauerei den verlockenden Angeboten der Makler nicht widerstehen und verkaufte ein Stück Land an den Charlottenburger Malermeister Hans Stäglich, der auf dem Grundstück Nr. 7 neben dem Gastgarten und dem Festsaal mit seinen Türmchen ein vierstöckiges Wohnhaus errichten wollte.
Die Hausnummer 4 im Jahre 1909

Von nun an ging es Schlag auf Schlag: Noch im August desselben Jahres erhielt der Charlottenburger die Baugenehmigung, im September wurde der Baubeginn angemeldet, im Oktober eine »Baubude, dann ein Abtrittsgebäude« für die Arbeiter errichtet. Im November kaufte der Baumeister David Joseph die Bretterbude samt Bauland, drei Monate später konnte der Rohbau vom Bauamt abgenommen werden, und schon im Spätsommer zogen die ersten Mieter in den stuckverzierten Neubau mit »19 Hausklosetts und einem Pissoir im Hof« . Zwei Jahre danach – das Gebäude besitzt nun schon »8 Badeeinrichtungen« – wird es abermals verkauft, und als es 1906 endlich an Ernst Thielebein geht, hat das Haus, das inzwischen die Nummer 4 trägt, innerhalb von 16 Jahren sieben mal den Besitzer gewechselt.

Die Mieter hatten, wie in den neuen Straßen im Süden üblich, gutbürgerliche Berufe. Im Erdgeschoss hatte neben der Restauration und Frühstücksstube Zur Bockquelle ein Schuster seinen Laden, darüber wohnte Thielebein. Seine Nachbarn waren ein Schneidermeister und ein Mützenmacher, ein Oberpostschaffner und ein Oberbahnassistent, ein Konditor und ein Schankwirt, ein Drucker und ein Schriftsetzer, ein Straßenbahnschaffner und ein Feuerwehrsekretär. Doch auch das feine Haus mit seinem Stuck und seinen Bädern kommt in die Jahre, aus Secretären und Oberpostmeistern werden Briefträger, Kutscher und Bierfahrer, und 1933 weist das Adressbuch einen Maurer, einen Kellner, einen Büfettier und allein sieben Witwen aus. Der erste Weltkrieg hat Spuren hinterlassen, und der zweite steht unmittelbar bevor. 1937 kauft Adolf Weiß das Haus neben der Brauerei, in deren Festsaal bereits die Nazis grölen, die schon bald den Ariernachweis vom Hausbesitzer verlangen und einer ursprünglich aus Ungarn stammenden Familie im Hause das Leben schwer machen. Auch mit anderen Mietern hat Weiß, der im 3. Stock wohnt, seine Sorgen. 1938 erstattet ein verärgerter Mieter Anzeige, weil Weiß das Wasserabflussloch auf einem Balkon zuzementieren ließ, so dass »bei starken Regenfällen das Wasser in meine Wohnung dringen wird. Ich bin überzeugt, daß dies nicht im Sinne Ihrer Verfügung gelegen hat und wäre für Prüfung und Verlangen des Abstellens des Mangels durch den Hauswirt dankbar. Mit deutschem Gruß, HH Kurt Gersdorf.«

Weiß klagt, dass er das Dach habe ausbessern lassen, eine Reparatur in der Gastwirtschaft übernommen habe, was ihn 3000 RM gekostet habe, weshalb ihm jetzt sogar das Geld für die Grundsteuer fehle. Der Mieter Gersdorf aber sei ein unangenehmer Mieter, letztens hätten sich die Kinder im Bad eingeschlossen, weshalb man die Tür habe aufbrechen müssen, und »im Treppenhaus haben selbige Löcher in den Mörtel geklopft. Außerdem fahren selbige Roller in der Stube auf und ab, und auf Vorstellung anderer Mieter war Herr Gersdorf erregt genug, diese mit der Faust zu bedrohen.«

Außerdem habe er in den letzten Monaten die Küche, die Decke und die Ölwand in Gersdorfs Wohnung neu streichen lassen, und »von Klawitter den Badeofen repariert, Toilette neu, Abflußstutzen... Der Küchenherd ist neuwertig aufgearbeitet, die Fenster werden noch verkittet, die Flecken in der Badestube noch entfernt...« Und das umstrittene Abflussrohr sei noch vom Vorbesitzer, weshalb er die Baupolizei darum bittet, »in Erwägung ziehen zu wollen, daß Frau Gersdorf die paar Regentropfen ev. aufwischen könne.«

Am Ende seines leidvollen Briefes bat er darum, »die verhängte Geldstrafe von 20 RM rückgängig zu machen, da ich kein Geschäft und auch kein Einkommen habe und mir das nötigste zum Leben fehlt.« Auch mit den Nachbarn von der Nummer 3 hat der arme Hausbesitzer seine Probleme. Die Feuchtigkeit aus den Brauereikellern ist auch in die Wände der Häuser auf den angrenzenden Grundstücken eingezogen, ein Mieter zeigt eine »nasse Außenwand im Erdgeschoß des Seitenflügels« bei der Polizei an, weshalb »mit der Brauerei recht schwierige Verhandlungen zu führen gewesen waren.«

Trotz aller Probleme in den wohl schwierigsten Zeiten seit der Errichtung des Hauses hat Adolf Weiß nicht verkauft, sondern vererbt. So blieb das Haus mit der Nummer 4 viele Jahre lang im Familienbesitz, bis die immer größer gewordene Erbengemeinschaft es 1980 verkaufte. Noch einmal wechselten, so wie am Anfang der Geschichte, innerhalb weniger Jahre mehrfach die Besitzer, bis am Ende die Kittel Grundstücksverwaltungsgesellschaft zuschlug, renovierte und in Eigentumswohnungen umwandelte. So ist auch das Ende dieser Geschichte so trivial wie das aller dieser längst verkauften Häuser in der einst stillen Gegend vor den Toren der Stadt. •

Bildnachweis: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0230079, Foto: J. Ellinghausen.

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