Juni 2016 - Ausgabe 180
Kreuzberger
Ralph Lanrue Vielleicht hätte ich Fußballer werden sollen!
von Hans W. Korfmann
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Irgendwann stand er vor der Frage, ob er Fußballer werden sollte oder Musiker. »Ich habe mich für die Musik entschieden, aber ich weiß nicht, ob das die richtige Entscheidung war.« Der Mann, der das sagt, ist der Gitarrist einer berühmten Rockband. Über 1000 Interpreten haben ihre Songs gecovert, und wenn sie heute auftreten und die alten Lieder spielen, dann »stehen da unten drei Generationen. Und die Leute haben tatsächlich Tränen in den Augen, wenn sie uns hören! Das berührt einen.« Aber ein Fußballerleben ist bequemer. »Da wird man zum Training und zu den Spielen abgeholt, hat mindestens 11 Freunde, von denen immer irgendeiner Geburtstag hat. Außerdem hat so ein erfolgreicher Fußballer im Ruhestand mit Sicherheit einen Balkon.« Der Balkon ist nur ein kleines und bescheidenes Glück. Aber so einen Balkon hätte er jetzt eigentlich gerne. Damals, in den Zeiten jugendlichen Sturms und Drangs, 1964, als er noch in der SG NiederRoden spielte und so erfolgreich war, dass ihn der TSV Weißenkirchen stante pede abwarb, woraufhin der DFB ihn zum Sichtungstraining einlud, damals träumte natürlich auch er von einer großen Fußballerkarriere. Aber das ist lange her, »da konnte ich noch nicht mal richtig Deutsch.« Ralph Peter Steitz, der Sohn eines deutschen Soldaten, der sich während der Kriegsgefangenschaft in eine Französin verliebte, war erst ein paar Monate zuvor nach Deutschland gekommen. Seine Mitschüler riefen »du Affe!«, wenn sie ihn sahen, und weil er glaubte, es handele sich um eine freundliche Begrüßungsformel, grüßte er eines Morgens den Klassenlehrer mit den unvergessenen Worten. Jedes Mal amüsierte Ralph die Mitschüler, wenn er mit seinem schlechten Deutsch an der Tafel etwas erklären musste, und dennoch erschien ihm die deutsche Volksschule nach dem Lyceum Champollion in Grenoble mit seinen steifen Schuluniformen wie eine Erlösung. »Hier gab es sogar Mädchen in den Klassen, und zum Naturkundeunterricht ging es Falleri-Fallera in den Wald hinein. Das war das Paradies«! Doch irgendwann war der Traum aus. Der Franzose verstand, dass der Bundeskanzler Ludwig Erhard nichts mit dem Komiker Heinz Erhardt zu tun hatte. Auch die Geschichten mit den Mädchen wurden ernster, das unbeschwerte Falleri-Fallera galt nichts mehr, wer etwas auf sich hielt, stand bei den Schulbällen mit der Gitarre auf der Bühne. Aber Ralph wollte nicht vorne stehen. Er kaufte sich ein Schlagzeug und nahm ganz hinten Platz. Sie nannten sich die Beat Kings und probten für den ersten Auftritt im Schwesternhaus in Niederroden, aber sie brauchten dringend noch einen Gitarristen. Ralph suchte überall, in der Schule, in den Jugendeinrichtungen, sogar auf dem Bauplatz, auf dem er die Wochenenden verbrachte, um das Schlagzeug abzubezahlen. Und da, - nicht auf der Bühne oder im Studio – wurde die erste entscheidende Weiche gestellt in Ralphs Leben. Er erzählte dem Baggerfahrer von seinem Dilemma mit dem Gitarristen, und der Baggerfahrer sagte: »Es gibt da einen guten Musiker, der wohnt gleich bei dir gegenüber«. Der Baggerfahrer war Blalla W. Hallmann von Hoffmanns Comic Teater, und der Gitarrist, von dem er sprach, war Rio Reiser, ein junger Musiker, der gerade die Musik für Hallmanns Robinson 2000, die erste Beatoper der Welt, schrieb. »Rio wohnte nur ein paar Häuser weiter, wir verstanden uns sofort«. Sie traten zusammen im Schwesternhaus auf, spielten in Schulen und Jugendeinrichtungen, nannten sich Phönix und De Galaxis und wechselten ständig die Besetzung. Das Potential an Ausnahmemusikern im 4000 Einwohner zählenden Nieder-Roden war mit Ralph und Rio offenbar ausgeschöpft. Einer ihrer Bassisten war so schlecht, dass sie ihm nach drei Stücken den Stecker zogen, »aber der turnte immer weiter auf seinem Stuhl herum, auf den er geklettert war, kein Mensch weiß, warum.« Sie spielten die B-Seiten von Who- und Hendrix-Singles, die im Ruf standen, besser als die A-Seiten zu sein. Irgendwann durften sie sogar »in den Amischuppen spielen, immer drei schnelle, dann drei langsame«. Damit die GIs an die Frauen rankamen. Foto: Wolfgang Wiegands Doch Rio war geboren, um frei zu sein, und ging mit Hoffmanns Comic Teater nach Berlin, während Ralphs Vater darauf bestand, dass der Sohn die Lehre als Dekorateur abschloss. 1967 aber trampte auch Ralph los. Mit einem Seesack, zwei Sticks und 20 Mark in der Tasche stand er bei Rio vor der Tür, »aber die Dreizimmerwohnung war voll, in jedem Zimmer stand ein Klavier oder ein Flügel, und überall waren Menschen.« Die erste Nacht verbrachte er im Café Kaputt auf dem Matratzenlager, wochenlang zog er durch die WGs, - »es war ja überall Tag der Offenen Tür in Berlin«. Es dauerte Jahre, bis er endlich einen festen Wohnsitz hatte, bis er mit Rio und dem Rest der Band vor dem Tempelhofer Ufer 32 stand, wo Jörg Schlotterer, ein Freund Dutschkes, Flugblätter gedruckt hatte, die sie auf ihrer Tour nach Westdeutschland mitnehmen sollten. »Schicke Wohnung«, sagte Ralph, der sich inzwischen R.P.S. Lanrue nannte und das Schlagzeug doch noch gegen die Gitarre getauscht hatte. »Wann können wir einziehen? Und Schlotterer sagte: Sofort!« Heute hängt eine Gedenktafel aus Porzellan für Rio Reiser an der Hauswand, die Gasag sponserte, Politiker kamen, Reden wurden gehalten. Damals dachte niemand an eine Gedenktafel. Spätestens nach dem Auftritt der »Roten Steine« auf Fehmarn im Sommer 1970, wo sie gleich nach Hendrix auftraten und Macht kaputt, was Euch kaputt macht spielten, während vor der Bühne das Büro der Organisatoren in Flammen aufging, war aus den harmlosen Beat Kings ein Politikum geworden. Aus den »Roten Steinen« wurden »Ton, Steine, Scherben« - mit der Betonung auf Scherben. Jeder Auftritt, der folgte, war eine Protestaktion. Und jenes Lied, das Weihnachten 1969 auf der Bühne von Hoffmanns Comic Teater in Kreuzberg zum ersten Mal zu hören gewesen war, wurde zur heimlichen Kreuzberghymne: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! Lanrue erzählt von den Jahren mit den Scherben ohne Pathos. Sie seien eben zur richtigen Zeit mit den richtigen Liedern am richtigen Ort gewesen. Außerdem sei das alles schon so lange her. Zwischen damals und heute liegen 9 Jahre in der Algarve und mehr als 20 Jahre auf einem Hof in Friesland. Lanrue hatte Schafe, ein Pferd, Oliven, Zitronenbäume. Er ackerte, baute, räumte überall ordentlich auf. Rio sagte, Ralph sei »der Hausmeister des Universums.« Musik war ihm wichtig, aber er hat sich »nie nur über die Musik definiert«. Die Momente des Erfolgs rauschten an ihm vorüber, ohne große Spuren, ohne störende Kratzer zu hinterlassen. Keine Müdigkeit, kein Stolz, keine Spur von Arroganz. Vielleicht, weil der Anfang schwer war. Weil sie ihn einmal mit »du Affe« begrüßten. Auch auf dem Fußballplatz wurde er zur Bescheidenheit ermahnt. »Wenn ich vier Tore schoss, sagte mein Vater: Es hätten auch fünf sein können!« Und wenn der Vater ihm eine Mark für jedes Tor zusteckte, dann war das weniger eine Belohnung als ein Vorschuss und ein Ansporn, besser zu werden. Lanrue findet keine großen Worte für sein Musikerleben. Die Scherben sind auch nicht die Stones. »Ein Auftritt der Scherben war kein Rock-Konzert, sondern eine politische Aktion«. Die Jahre des Erfolges waren ungemütlich und manchmal ziemlich ärgerlich, »für Kreuzberg brauchte man einen Passierschein, ständig Zollkontrollen, Schlägereien, Bombendrohungen, Verfolgungsjagden in besetzten Häusern. Immer wieder wurden Konzerte abgesagt. Eigentlich waren wir froh, wenn wir heil von der Bühne runterkamen! Daraus resultiert dann auch ein bisschen Bescheidenheit«. Natürlich konnten sie »eine Zeit lang gut leben«. Aber es gab immer diese Dämpfer, die Scherben verloren nie den Bodenkontakt. »Sonst hätten wir diese Lieder nicht machen können. Da fahren wir mit 1000 Mark in der Tasche von einem Konzert nachhause und auf halber Strecke haben wir einen Achsenbruch. Da war das Geld wieder weg! Das Ende war ein Scherbenhaufen. In Fresenhagen haben wir Heu verkauft, wir waren berühmt für unsere Schulden! Wie sollten wir auch reich werden, die meisten Konzerte waren Solidaritätskonzerte, wir haben nie einen Plattenvertrag gemacht! Wenn du Geld verdienen willst, machst du keine Agit-Rock-Band. Dann spielst du Fußball oder so was«. Aber Lanrue hatte sich nun einmal für Musik entschieden. Und suchte sich, als er nach Berlin kam, beim Sklavenhändler einen Job auf dem Fruchtmarkt am Westhafen, morgens, lange vor Sonnenaufgang. »Pass auf, dass du keine gefrorenen Rinderhälften abladen musst!«, rieten ihm die Ausgelernten. Später fand er einen Job als Dekorateur. Er hätte beim KDW anfangen können, im größten Kaufhaus Europas. Aber er entschied sich für Woolworth. Weil er dort erst abends arbeiten musste, weil es dort nicht um den goldenen Schnitt ging, sondern darum, möglichst viel ins Fenster zu bekommen. Beim KDW hätte er vielleicht Karriere mit Balkon gemacht, aber »Wulle war ein genialer Job, ich konnte machen, was ich wollte.« Das reichte zum Glücklichsein. Auch das bescheidene Leben in Portugal, in dem kleinen Haus mit ein paar Zitronen und Oliven, hätte gereicht. Aber dann verschlang ein Waldbrand das Haus, die komplette Vergangenheit, Bilder, Bücher, Musikinstrumente, Briefe, »sogar die Karte von Paul Breitner«. Er rettete ein paar Papiere, seine Gibson, zwei Koffer Habseligkeiten. Es gab nur noch einen schmalen Weg durch die Flammen, »und ich war froh, noch am Leben zu sein. Man wird bescheiden im Lauf der Zeit! Mit einem 12-Tonner bin ich angekommen, und mit ´nem halben VW-Bus kam ich zurück.« Foto: Privat
Trotzdem würde er dieses Leben wahrscheinlich genau so noch einmal leben. Sich wieder für Musik entscheiden. Wenn er erzählt, kommt manchmal Begeisterung auf. »Eines Tages, in Fresenhagen, hör ich im Nebenzimmer jemanden am Schlagzeug. Ich denk, das hört sich wirklich gut an, wer ist denn das? Und irgendwann steh ich auf und geh rüber und da kniet Trilok Gurtu, dieser indische Perkussionist von John McLaughlin, vor unserm Schlagzeug. Zwei Jahre später wurde er zum besten Schlagzeuger der Welt gewählt. Da war ich wirklich stolz!« Manchmal sind die Jahre mit den Scherben gar nicht so weit weg. Wenn er erzählt, kommen sie näher, dann sieht er alles wieder deutlich vor sich, dieses letzte Konzert mit Rio, wie sie da mitten in dem von bescheuerten Grenzbeamten umzingelten Ost-Berlin in der Seelenbinder-Halle stehen und Keine Macht für Niemand singen, »und alle singen mit, ein Jahr vor dem Fall der Mauer! Wahnsinn!« Aber auch, wenn er von den Zitronen spricht, den Schafen, dem Winter in Friesland, den Freunden, dann haben es die Worte plötzlich so eilig, als könnte auf ihrem mitunter langen Weg zum Punkt etwas verloren gehen. Wenn er erzählt, wie Nikel Pallat, der ehemalige Manager, und Schlotterer, der Dutschkefreund, in Fresenhagen auf die Idee kamen, ins Nachbardorf zu fahren, um am Training der Dorfmannschaft teilzunehmen. »Das vergess ich nie!«, sagt Lanrue, wie diese beiden vollkommen bekifften Freaks mit ihren ausgeleierten Sporthosen inmitten dieses MTV Leck auf dem Rasen stehen und fragen, ob sie mal mitspielen dürfen. »Solche Typen kannten die in Friesland bis dahin nur aus der Bildzeitung!« Aber man ließ sie mitspielen, Lanrue schoss vier Tore, nach dem Training legte Hauptmann Schwarz vom 52. Geschwader dem vermeintlichen Franzosen die Hand auf die Schulter und fragte: Hast du schon einen Vereinsausweis?« 14 Jahre nach dem SV Nieder-Roden wechselte Ralph Steitz noch einmal zum MTV Leck und zum TSV Stadum. Ein Profi ist er nicht mehr geworden, aber ein Torschützenkönig. Den Pokal hat er heute noch. Geprahlt hat er damit nie. Ebensowenig wie mit den vielen Liedern, die er komponierte. Alle diese Melodien, die heute so bekannt sind wie früher einmal die Berliner Luft. Keiner der Mitspieler ahnte, dass der Ralph aus dem Nachbardorf zu einer Band gehörte, die im fernen Berlin bekannter war als Hertha BSC. Erst als eines Tages die Polizei mit Hubschraubern über der sagenumwobenen Hippiekommune kreiste und das Gebiet weiträumig absperrte, ahnten sie, wer da in ihren Reihen so stürmisch nach vorne stürmt. Lanrue ist bescheiden. Er findet keine großen Worte. Aber manchmal kommt er ins Erzählen. Dann fallen sie ihm alle wieder ein, diese vielen, kleinen, verrückten Geschichten des Lebens. Ein Balkon wäre schön. Aber er würde die Geschichten nicht tauschen - nicht gegen den schönsten Balkon der Welt. • |