Juli 2016 - Ausgabe 181
Literatur
Am Ende steht immer eine Kneipe von Tscharlie Häusler |
Rothe fuhr bis zur Bushaltestelle Oranienplatz. Der 29er, der nun M29 hieß, hielt hier. Früher hieß der Bus schlicht 29, dann 129, jetzt eben M29. Metrolinie 29. Metro wie Metropole. Sollte großstädtischer klingen. Das sagten zumindest die äußerst gut alimentierten »Consultants« der BVG, der Berliner Verkehrsbetriebe, die sich alljährlich neue Namen und neue Tarife ausdachten. Genau so war es auch mit den U-Bahn-Linien gewesen, die ganz früher alphabetisch und jetzt numerisch durchgezählt wurden. Einst gab es die Linien A, B, C und so weiter. Jetzt hießen sie U1 bis U9. Seltsamerweise fehlte jahrelang die U3, dafür gab es aber eine U15. (...) »Müssen wohl diese Consultants gewesen sein, die jetzt ihre langjährige Scharte ausgewetzt haben. Wie viele Meetings dafür wohl wieder notwendig gewesen waren«, dachte Rothe und grinste. Gutbezahlte Berater, deren Gehälter parallel mit den Ticketpreisen steigen. Es drängten sich Analogien zum Unternehmen Deutsche Bundesbahn auf. »Vielleicht sollte ich mich als BVG-Berater bewerben«, grübelte Rothe, während er am Oranienplatz ausstieg. Besser wäre nur noch Berater für das Arbeitsamt. Rothe lächelte bei dem Gedanken daran, dass das Amt – offenbar nach gründlicher Beratung durch bestens bezahlte Consultants – zukünftig als Arbeitsagentur bezeichnet werden soll. Sollte wohl moderner klingen. Eine leicht durchschaubare Imagepolitur. Genau dasselbe Prinzip, nach dem sich früher Raubritter adeln ließen und sich Politiker und Hochstapler immer mit einem dubios erworbenen Doktortitel schmückten. Jobs wird es deswegen zwar trotzdem nicht geben, aber man hatte einen neuen Namen und – nicht zu vergessen – ein neues Logo. Das sollte bald rot-weiß, statt weiß-rot sein. »Rot-weiß statt weiß-rot«, dachte Rothe. »M!«, entfuhr es ihm etwas zu laut, und einige Mitpassagiere im M29 drehten sich nach ihm um. Rothe versuchte, unauffällig und ohne Blickkontakte aus dem Fenster zu starren und dachte weiter über seinen beruflichen Werdegang nach. Ehrlicherweise hätte er, selbst wenn er wollte, keine Chance Berater zu werden, denn er konnte keine Krawatten binden. Er hatte sich bisher auch strikt geweigert dies zu tun, obwohl ihm sein Vater vor seinem letzten Vorstellungsgespräch eine penibel gezeichnete Gebrauchsanweisung geschickt hatte. Krawattenbinden leicht gemacht, in fünf Schritten – akkurat gemalt. Die Gebrauchsanweisung hatte er dennoch sorgsam abgeheftet. Als Andenken. Im Übrigen wusste man ja nie, ob die Anleitung nicht doch noch mal im äußersten Notfall gebraucht werden konnte. Rothe war dann jedenfalls ohne Krawatte zum Vorstellungsgespräch gegangen und wurde nicht genommen. Ob das an der fehlenden Krawatte gelegen hatte? Für ihn jedenfalls war dieser Strick um den Hals ein Sklavenmal, das er nie, aber auch wirklich nie tragen wollte. Grundsätze eben. Tscharlie Häusler: Wie Rothes Grundsätze mit Kreuzberg kollidierten, Ka&Jott Verlag 2015, ISBN 978-3-946391-00-5, Preis 10,90€, E-Book: 8,99€ |