Kreuzberger Chronik
Dez. 2016/Jan. 2017 - Ausgabe 185

Herr D.

Der Herr D. sucht ein Geschenk


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von Hans W. Korfmann

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oder
Eine etwas cordhosige Entscheidung

Der Herr D. hatte einen Nachbarn, der seit zwei Wochen mit der Grippe im Bett lag und niemanden zum Trost hatte. Also beschloss der Herr D., ihm etwas zu Weihnachten zu schenken, und ging ins Männergeschenkgeschäft Herrlich. »Wie wäre es mit unserem Nobelpreisträger?«, fragte der Verkäufer.

Es war klar, wen der Verkäufer meinte. Es war klar, dass Bob einer von ihnen war. Bob war zigmal im Tempodrom aufgetreten, sein Freund Bowie wohnte nebenan in Schöneberg! Also lagen am 15. Oktober in allen Kreuzberger Kneipen die Tageszeitungen mit der Kulturseite nach oben auf dem Tisch, und der Herr D. las mit viel Vergnügen, wie die Literaturwelt sich empörte, dass der Barde mit seiner Gitarre und mit ein paar kurzen Liedtexten den Literaturnobelpreis erhielt, und nicht ein ernst zu nehmender Autor, den die Welt auch nach zwanzig Dreihundert-Seiten-Romanen immer noch nicht kannte. Die Plappertasche Sibylle Berg spottete, »dass ihre Chance auf den Nobelpreis in Physik soeben dramatisch gestiegen sei«, ein amerikanischer Kollege vermutete, das schwedische Urteil sei »aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies« entsprungen, ein anderer hielt Dylan für die »cordhosigste Entscheidung der Nobelpreisgeschichte«.

Sigrid Löffler, die schon zu Zeiten des Literarischen Quartetts eher wie eine Kochstudio-Moderatorin als wie eine Literaturwissenschaftlerin aussah, sprach von einer »phantastischen Fehlentscheidung«, und Denis Schenck, der amtierende Literaturpapst, von einem »Späßeken«, bei dem er nicht lachen konnte. Marcel Reich-Ranicki, sollten die lauten Stimmen zu ihm vorgedrungen sein, wird sich geärgert haben über die Aufregung. Säße er noch am Tisch, er hätte mit einer einzigen Handbewegung seine schnatternden Kollegen zum Schweigen gebracht: »Wozu denn diese ganze Aufregung? Hier ist einer geehrt worden, der mit klaren, wenigen Worten eine Botschaft überbracht hat, die in der ganzen Welt angekommen ist. Vollkommen zu Recht ist er geehrt worden, möchte ich sagen, denn was ist denn die Aufgabe der Literatur? Es ist die Aufgabe der Literatur, den Leser zum Nachdenken, zum Überdenken, vielleicht sogar zum Umdenken zu bewegen. Und diese Aufgabe hat Bob Dylan sehr gut erledigt.«

»Oder vielleicht doch lieber ein Sauna-Handtuch?«, fragte der Verkäufer. Der Herr D., noch immer die kratzige Stimme Reich-Ranickis im Ohr, überlegte, ob der Nachbar einst vielleicht ein Hippie war. Er erinnerte sich an einen Samstag vor zwanzig Jahren, als auf der Wiese vor dem Tempodrom dreißig Alt-Hippies saßen, die mit einer Flasche Wein oder einem Joint umsonst und draußen zuhörten, wie Dylan mit seiner betrunkenen Stimme drinnen die alten Lieder sang. Alle sangen mit, als er Mr. Tambourine Man sang. Es gibt kaum ein Lied, bei dem so viele mitsingen können, dachte der Herr D. und traf eine etwas cordhosige Entscheidung: Er kaufte eine Bob Dylan-CD. •


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