September 2015 - Ausgabe 172
Kanzlei Hilfreich
Der blinde Richter von Kajo Frings |
Jens Hilfreich hatte eine lange Nacht hinter sich. Am nächsten Morgen war er äußerst wortkarg. Eines Abends - Hilfreich hielt sich wieder einmal im Riehmers auf und gab einigen Rechtsreferendaren am Tresen Nachhilfeunterricht in Verfahrensrecht - wurde eine Runde Tequila Shots mit Salz und Zitrone nach der anderen spendiert. Gegen Morgen fiel dem Anwalt ein, dass er in vier Stunden einen Gerichtstermin am Amtsgericht Schöneberg hatte, und dass es sich kaum noch lohnte, in die Wohnung zu gehen. Also entschloss er sich, sofort sein Büro aufzusuchen, Akte und Robe einzupacken, ein Nickerchen im Schreibtischstuhl zu nehmen, den schalen Geschmack im Mund mit einer im Schreibtisch vorhandenen 20prozentigen Notration Listerine wegzugurgeln und loszufahren. Er traf Frau Körner vor dem Amtsgericht. Es war kein großes Ding. Seine Mandantin hatte in Westdeutschland gelebt und sich vor einiger Zeit entschlossen, ihren Ehemann zu verlassen, um mit ihrem Freund nach Berlin zu ziehen. Die gemeinsame Tochter lebte beim Vater und so gab es beim dortigen Amtsgericht einen Rechtsstreit über das Sorgerecht der Mutter. Diese sollte nun im Wege der Amtshilfe angehört werden. Hierfür war in ganz Westberlin eine Abteilung des Amtsgerichts Schöneberg zuständig. Der Richter kam pünktlich mit seiner Protokollführerin, die die Akten trug und den Richter zu seinem Sitz leitete. Der Richter fragte, wer denn nun erschienen sei und stellte sofort klar: »Bitte sprechen Sie klar und deutlich, damit ich weiß, wohin ich schauen muss. Ich bin blind. Keine Sorge, ich kenne die Akten, meine Protokollführerin liest sie mir immer vor und schreibt alles auf, was hier verhandelt wird.« »Nun, dann erzählen Sie mal, Frau Körner. Warum glauben Sie denn, einen Anspruch auf Umgang mit Ihrer Tochter und sogar das Sorgerecht zu haben, wenn Sie diese verlassen haben?« Frau Körner schilderte ausführlichst die ehelichen Verhältnisse, die besonderen Umstände der Trennung und dass sie demnächst ihre Tochter nach Berlin nachholen wolle. Der Richter: »Und halten Sie es für gut, dass Ihre Tochter bei einer Mutter leben soll, die schon morgens um neun versucht, ihren Alkoholkonsum mit Mundwasser zu verdecken? Ich sehe zwar nichts, aber höre und rieche dafür sehr gut. Oder haben Sie sich nur Mut angetrunken?« Frau Körner war entsetzt. Sie flüsterte zu Jens Hilfreich: »Was redet der da? Ich darf doch schon wegen meiner Gelbsucht keinen Alkohol trinken.« Jens beschloss, zum ersten Mal an diesem Morgen das Wort zu ergreifen. Zögernd erhob er sich, trat einige Schritte auf den Richter zu und sagte, nicht ohne eine gewisse Demut in der Stimme: »Herr Vorsitzender. Ich bitte mir zu gestatten, an den Richtertisch zu treten. Ich muss da etwas aus nächster Nähe klarstellen!« |