Oktober 2015 - Ausgabe 173
Strassen, Häuser, Höfe
Yorckstraße 4-11 von Michael Oswald |
Nach dem Krieg klaffte in der Yorckstraße eine große Lücke. Kreuzberg ist kein Dorf, wie viele noch immer behaupten. Kreuzberg ist eine Stadt. In den Altbauten hinter dem neuen Kreuzberger Rathaus stapeln sich in kilometerlangen Archiven und Regalen Urkunden, Genehmigungen, Anträge, Bauunterlagen und der gesamte Schriftverkehr zwischen den Behörden und den Bürgern. Wer einen Blick hinter die Fassade des Rathauses in der Yorckstraße wirft und im stillen Hof vor den alten Gebäuden mit ihren hohen Toren und großen Fenstern steht, erhält einen Eindruck davon, wie viele Menschen in Kreuzberg leben. Foto: Dieter Peters
Foto: Dieter Peters
Immerhin das neue Rathaus war Mitte der Fünfzigerjahre bezugsfertig. Es war im Grunde der erste Amtssitz für den neuen Verwaltungsbezirk Kreuzberg überhaupt, der 1920 aus der Fusion von Teilen der Luisenstadt, der Tempelhofer Vorstadt und der Friedrichstadt entstand. Zunächst hatten die neuen Stadtviertelväter mit ihren Aktenordnern durch Schulen und andere Provisorien ziehen müssen. Im Juni 1921 bezogen sie dann ein Gebäude zwischen der Yorckstraße und dem Dragonerquartier, das mit den langen Gängen und großen Räumen eigentlich das Schulhaus der Friedrichs-Werderschen-Realschule hatte werden sollen. Doch der Erste Weltkrieges stellte sich dem Bildungsanspruch in den Weg. Schon wenige Monate nach dem Ausbruch des Krieges wurden die Klassensäle mit Verwundeten belegt, in denen nun viele der stolzen Reiter des benachbarten 1. Garde Dragoner Regiments auf die Genesung warteten. Foto: Dieter Peters
Mitte der Fünfzigerjahre zog Texas-Willy in den Bau seines Namensvetters Willy Keuer ein. Keuer, der in ähnlicher Bauweise auch die Amerika-Gedenk-Bibliothek und die TU-Gebäude am Ernst-Reuter-Platz geschaffen hatte, baute einen regelrechten Rathausturm mit zehn Stockwerken und einem gläsernen Übergang zu einem zweiten Bauwerk mit nochmals 6 Stockwerken. Natürlich ernteten der Bürgermeister und sein Architekt nicht nur Lob für ihr Bauwerk, 1954 schrieb die Kreuzberg Revue über das »modernste Rathaus Europas« , dass es einen Rathauskeller im 10. Stock habe, dass die Fluchttreppe nur vom 9. bis in den 5. Stock führe, dass man die Zimmer durch Glaswände getrennt habe, dadurch aber »die Verwaltung auch nicht durchsichtiger« würde, und dass ein Fremdenführer auf einer Stadtrundfahrt auf die Frage eines Fahrgastes, wie viele Beamte in dem Gebäude arbeiteten, geantwortet habe: Die Hälfte. Ein Gerücht, das sich bis heute hartnäckig gehalten hat. |