Kreuzberger Chronik
Oktober 2015 - Ausgabe 173

Strassen, Häuser, Höfe

Yorckstraße 4-11


linie

von Michael Oswald

1pixgif
Nach dem Krieg klaffte in der Yorckstraße eine große Lücke.

Kreuzberg ist kein Dorf, wie viele noch immer behaupten. Kreuzberg ist eine Stadt. In den Altbauten hinter dem neuen Kreuzberger Rathaus stapeln sich in kilometerlangen Archiven und Regalen Urkunden, Genehmigungen, Anträge, Bauunterlagen und der gesamte Schriftverkehr zwischen den Behörden und den Bürgern. Wer einen Blick hinter die Fassade des Rathauses in der Yorckstraße wirft und im stillen Hof vor den alten Gebäuden mit ihren hohen Toren und großen Fenstern steht, erhält einen Eindruck davon, wie viele Menschen in Kreuzberg leben.

Foto: Dieter Peters
Doch die alten Verwaltungsgebäude sind hinter einem Neubau aus den Fünfzigerjahren versteckt. Eine Schönheit ist der neue Bau nicht, eher ein Fauxpas in einer dieser breiten Prachtstraßen, die einst sternförmig aus allen Himmelrichtungen kommend zum Großen Stern führen sollten: Der zehnstöckige Stahlzementbau mit den Betonröhren, den schmucklosen Wänden und der nüchternen Glasfront gegenüber von Riehmers Hofgarten mit seinen Karyatiden, den dick und kunstvoll aufgetragenen Stuckverzierungen und den ausladenden Balkonen mit ihren schmiedeeisernen Gittern ist ein Stilbruch. Es ist eines jener nüchternen, nur dem Zweck dienenden Gebäude, die in den Fünfzigerjahren neben den Ruinen Kreuzbergs entstanden und zwischen den schönen Häusern der Berliner Blütezeit bis heute »wie Fremdkörper wirken« . Wohnviertel wie die Otto-Suhr-Siedlung oder die Spring-Siedlung an der Ritterstraße spiegeln die Not der Nachkriegsjahre wider, sind Manifestationen des eiligen Wiederaufbaus, nicht der idealistischen Architektur der Gründerzeit. Um so schnell wie möglich Normalität herzustellen, wurden ganze Viertel abgerissen und machten Platz für Le Corbusiers »Wohnmaschinen« . Auch der beliebte Bürgermeister Willy Kressmann, dessen Gattin später zu einer ebenso erfolgreichen wie skandalumwitterten Bauunternehmerin aufstieg, zögerte nicht vor der Kahlschlagsanierung zurück, um die Resultate der Politik des Wiederaufbaus vorweisen zu können.


Foto: Dieter Peters
Doch die Resultate lassen auf sich warten. 1958 fabuliert ein humorvoller Autor, dass im Rathaus an der Yorckstraße ständig das Telefon klingelt. Kressmann, »der Chef von det Janze«, hebt ab, ein Reporter ist am Apparat, der wissen will, ob im nächsten Monat endlich der Grundstein für den Blumenmarkt gelegt wird. Kressmann räumt ein, es sei »noch nicht soweit«. - »Und wie steht es mit dem Europahaus, Herr Bürgermeister?« Kressmann ahnt, was als nächstes kommt: »Wenn Sie mich jetzt noch nach dem Gewerbehof, nach der Oberbaumbrücke, dem Bau des Schwimmbades auf dem Görlitzer Bahnhof und dem Plaza-Projekt in der Hasenheide fragen: Ich kann Ihnen nichts sagen!« Es fehlt am Geld für den Wiederaufbau.

Immerhin das neue Rathaus war Mitte der Fünfzigerjahre bezugsfertig. Es war im Grunde der erste Amtssitz für den neuen Verwaltungsbezirk Kreuzberg überhaupt, der 1920 aus der Fusion von Teilen der Luisenstadt, der Tempelhofer Vorstadt und der Friedrichstadt entstand. Zunächst hatten die neuen Stadtviertelväter mit ihren Aktenordnern durch Schulen und andere Provisorien ziehen müssen. Im Juni 1921 bezogen sie dann ein Gebäude zwischen der Yorckstraße und dem Dragonerquartier, das mit den langen Gängen und großen Räumen eigentlich das Schulhaus der Friedrichs-Werderschen-Realschule hatte werden sollen. Doch der Erste Weltkrieges stellte sich dem Bildungsanspruch in den Weg. Schon wenige Monate nach dem Ausbruch des Krieges wurden die Klassensäle mit Verwundeten belegt, in denen nun viele der stolzen Reiter des benachbarten 1. Garde Dragoner Regiments auf die Genesung warteten.

Foto: Dieter Peters
Als der Krieg vorüber war, beschloss man, das Lazarett zum zentralen Verwaltungsgebäude des neu gegründeten Bezirks Kreuzberg umzubauen. Die langen Gänge blieben erhalten, nur die Säle wurden parzelliert. Die Bezirksversammlung tagte nicht mehr in der Aula der Arndt-Realschule in der Gneisenaustraße, sondern in einer umgebauten Turnhalle in der Yorckstraße. 1938 schien den Bezirksverordneten aber auch dieser Turnsaal nicht mehr fein genug, ein Architekturwettbewerb für einen Neubau am Blücherplatz wurde ausgeschrieben. Wieder kam dem Bauvorhaben ein Krieg in die Quere.

Mitte der Fünfzigerjahre zog Texas-Willy in den Bau seines Namensvetters Willy Keuer ein. Keuer, der in ähnlicher Bauweise auch die Amerika-Gedenk-Bibliothek und die TU-Gebäude am Ernst-Reuter-Platz geschaffen hatte, baute einen regelrechten Rathausturm mit zehn Stockwerken und einem gläsernen Übergang zu einem zweiten Bauwerk mit nochmals 6 Stockwerken. Natürlich ernteten der Bürgermeister und sein Architekt nicht nur Lob für ihr Bauwerk, 1954 schrieb die Kreuzberg Revue über das »modernste Rathaus Europas« , dass es einen Rathauskeller im 10. Stock habe, dass die Fluchttreppe nur vom 9. bis in den 5. Stock führe, dass man die Zimmer durch Glaswände getrennt habe, dadurch aber »die Verwaltung auch nicht durchsichtiger« würde, und dass ein Fremdenführer auf einer Stadtrundfahrt auf die Frage eines Fahrgastes, wie viele Beamte in dem Gebäude arbeiteten, geantwortet habe: Die Hälfte. Ein Gerücht, das sich bis heute hartnäckig gehalten hat.

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg