Oktober 2015 - Ausgabe 173
Kreuzberger
Kadim Aslan Ich bin ein echter Kreuzberger
von Hans W. Korfmann
|
Kadim ist am 1. Februar geboren. Ebenso wie seine Mutter. Und wie seine Schwester. Und ebenso wie viele andere aus Varto, deren Papiere während des Erdbebens im August 1966 verloren gingen. »1. Februar 1968« steht in Kadim Aslans Pass, obwohl er, seine Mutter beschwört es, schon zwei Jahre früher zur Welt kam. Aber so genau nahmen das die Behörden tief im Osten der Türkei nicht. Also war Kadim fast vier Jahre alt, als er im Herbst 1969 mit seiner Mutter und den Geschwistern nach Kreuzberg reiste, wo der Vater Arbeit und eine 120 Quadratmeter große Erdgeschoßwohnung gefunden hatte - »aber mit Telefon und Innentoilette - Jawohl!« 45 Jahre später wohnt er immer noch hier, nur ein paar Meter von jener Straße entfernt, in die sie einst einzogen. Kadim ist nicht viel herumgekommen, er war in Hamburg, Hannover und Bonn, und »ungefähr fünf Mal« ist er in die Türkei geflogen. Aber sonst hat er Kreuzberg nie verlassen. »Ich bin ein echter Kreuzberger.« Nicht einer von denen, die sich erst nach dem Fall der DDR in die Stadt trauten, und die sich schon abends um zehn in ihrer Ruhe gestört fühlen und die Polizei rufen, wenn Kadim mit »dem Graf« und mit Hansi bei Nerhat vor dem Kiosk steht und sich über die Griechenlandpolitik der Frau Merkel unterhält. »Wenn ich Bürgermeister von Kreuzberg wäre, dann würde ich zuerst einmal allen Bewohnern erlauben, bis nachts um eins Tische und Stühle auf die Straße zu stellen.« Früher saß nach Sonnenuntergang die ganze Kreuzberger Nachbarschaft auf der Straße. Da standen Tische und Stühle auf dem Pflaster, es gab Kaffee und Tee, Gebäck, gefüllte Teigfladen, Bier und Wein, und alle redeten miteinander, die Deutschen und die Türken. »Heute, da weiß man ja schon gar nicht mehr, wer bei einem im Haus wohnt. Da stehen auch gar keine Namen mehr an der Tür. Da öffnet man mit Chipkarten und Spezialcodes, und wird dabei noch von Kameras beobachtet. Aber früher, früher war das richtig schön in Kreuzberg.« Mit Schulfreunden, Kadim Aslan rechts unten
Auch »der Jahn« war ein Glück. Der Jahn hatte gleich neben ihnen in der alten Ladenwohnung sein Karatestudio, und der neugierige Kadim sah ihm so lange durch die Fensterscheibe beim Training zu, bis der Meister ihn eines Tages hereinwinkte. Die beiden wurden Freunde, Kadim sein Schüler. Als Jahn eines Tages auszog und seine Räume an ein Kollektiv abgab, das in der Nostitzstraße eine »Lederwerkstatt« aufmachen wollte, da nahm Jahn ihn bei der Hand, führte ihn zu den langhaarigen Männern und sagte: »Das ist Kadim. Ich möchte, dass Ihr gut auf den Jungen aufpasst.« Malle, Lutz und Paul waren nette Leute. »Ich holte jeden Tag Schrippen für die und bekam dafür Taschengeld. Irgendwann stand im hinteren Raum eine Nähmaschine, und die sagten: Das ist jetzt deine!« Sie überreichten ihm einen Sack mit Lederresten, aus denen der kleine Kadim eine große Lederdecke nähen sollte. Sie wurde so groß, dass sie am Ende wieder in drei Teile geschnitten und im Winter in die türlosen Türrahmen gehängt wurde. Jetzt kam Kadim jeden Tag nach der Schule gleich in die Lederwerkstatt, lernte Reißverschlüsse herauszutrennen, Reißverschlüsse einzunähen, Futter zu ersetzen und kleine Reparaturen auszuführen. Manchmal schauten die Kunden auch zu ihm in die Kammer, Nena zum Beispiel, die gerade ihre 99 Luftballons hatte steigen lassen und ihre komplette Band in der Lederwerkstatt einkleiden ließ. Sie lachte und winkte Kadim zu. »Was sie gesagt hat, weiß ich nicht mehr, das ist doch schon so lange her. Wahrscheinlich sagte sie: Ich liebe dich!« Eines Tages kam Jochen, der später den Jugendclub im Wasserturm leitete, mit einem Loch in der Jeans. Kadim flickte mit Leder. Zwei Wochen später kam er wieder. Und dann nochmal. »Am Ende hatte er eine komplette Lederhose, so viele Flicken waren da drauf!« Es war lustig in der Werkstatt, die Kunden kamen und plauderten erst mal eine halbe Stunde über dies und das, über Nicaragua oder Baader-Meinhof, »und dann wurde irgendwann Maß genommen« . Kadim verdiente manchmal mehr Geld als sein Vater, aber es blieb nichts davon übrig, denn er bekam seinen Lohn immer gleich am Feierabend. Und dann war er mit seinen Freunden unterwegs, dann gab es Pommes, türkische Pizza, Eis und Cola. Außerdem spendete er einen Teil seines Lohnes für Nicaragua. »Die haben ja alle was von ihrem Lohn für die Schule in Nicaragua abgegeben, die sie aufbauen wollten. Ich fand das super o.k., und dann hab ich eben auch was abgegeben von meinem Lohn.« Eine Zeit lang wohnte er sogar mit den Leuten von der Werkstatt zusammen in einer Fabriketage in der Möckernstraße, »ich weiß gar nicht, wie viele Zimmer das waren und wer da alles wohnte.« Manchmal fuhren sie eine Woche nach Hamburg, um Leder einzukaufen, und zogen nachts durch die Kneipen. Oder sie fuhren nach Köln. Nur nach Nicaragua kam Kadim nicht. »Ich weiß nicht warum. Ich war eigentlich für jedes Abenteuer zu haben. Wenn die gesagt hätten, fahr mal einen Laster nach Alaska, ich wäre sofort losgefahren.« Hansi, der später das Matto am Chamissoplatz hatte, war mit Malle dick befreundet und mit in Südamerika gewesen. »Das waren echte Kumpel.« Vor ein paar Jahren ist Malle gestorben. Manchmal stehen Kadim und Hansi »vorm Heimgetränke« und plaudern über alte Zeiten, die endeten, als die Lederwerkstatt 1987 aus der Nostitzstraße auszog. Kadim war bereits ein richtiger Mann, der eine Frau brauchte. Und da trat das größte Glück im Unglück in Kadims Leben: Gülcehre. Kadims Frau war bereits im fünften Monat schwanger, als religiöse Fanatiker ihren Bruder erschossen, der während des Ramadans nicht gefastet hatte. Die Schwester reiste zur Beerdigung in die Türkei, am Grab müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Kaum war sie zurück, kam ihr Kind zur Welt, nur 1050 Gramm schwer und sprachlos. Für Kadim, der bislang viel Glück im Unglück gehabt hatte, brach mitten ins große Glück ein großes Unglück. Inzwischen hat die Tochter zwei Brüder bekommen. Kadim gibt nicht so schnell auf. Als neue Leute in die Lederwerkstatt kamen, mit denen er sich nicht mehr verstand, begann er eine Tischlerlehre. Der Meister holte ihn jeden Tag von der Gneisenaustraße ab, um mit ihm nach Zehlendorf zu fahren. Als der Meister aufhörte, begann Kadim auf dem Bau, bis er im dritten Stock vom Gerüst stürzte. Wieder stand ihm das Glück im Unglück bei: Kadim fiel auf die Füße. Aber der Chef meinte, er solle »künftig lieber auf dem Boden« bleiben. Er nahm den Ratschlag wörtlich und begann mit »einem Kumpel Böden abzuschleifen« und Parkett zu legen. Nach zwei Jahren bei den Meisterböden wusste er genug, um sich selbstständig zu machen. Wenig später schliff und versiegelte er für die Gewobag und die GSW. Bis die Schmerzen in den Knien begannen. Irgendwann stellte er die Maschinen wieder ab, »aber ohne Schulden zu machen« , und meldete ein Gewerbe als Fahrradhändler an. »Ich hab schon als Fünfjähriger immer Fahrräder repariert, aber heute braucht man ja für alles einen Schein.« Außerdem klebte er beim »Heimgetränke« einen kleinen Zettel in die Scheibe: Übernehme Malerarbeiten, Tischlerarbeiten, Entrümpelungen. Der Zettel hängt noch immer dort, obwohl Kadim gar keine Aufträge mehr annimmt. Er hat Rente beantragt. Er möchte sich langsam zur Ruhe setzen. Seiner Frau mit der Tochter helfen. Auch wenn es eigentlich noch ein bisschen früh ist für einen, der 1966 oder 1968 geboren ist. Kadim hat genug gearbeitet. Wenn er noch einmal einen Job annimmt, dann höchstens den des Bürgermeisters. »Ich bin schon so lange hier, ich kenne mich hier super aus. Ich kenne so viele Leute, und die würden mich alle wählen. Ich bin ein echter Kreuzberger! Ich würde dafür sorgen, dass wir auch wieder ein echtes Kreuzberg bekommen.« |