Kreuzberger Chronik
Oktober 2015 - Ausgabe 173

Essen, Trinken, Rauchen

Unter Touristen


linie

von Horst Unsold

1pixgif
In sämtlichen Kreuzberger Lokalen saßen gut gelaunte Menschen aus aller Welt. Nur ein Pärchen aus Kreuzberg schien die gute Laune der vielen Besucher nicht zu teilen. Mit einem Gesicht, als gäbe es beim neuen Thailänder nur Spinat mit Spiegelei, setzte sich der alte Mann an den Tisch und sagte zu seiner jungen Frau:

»Da faste ich doch lieber, als dass ich diesen Scheiß-Touristenfraß esse. Da hab ich doch hinterher noch schlechtere Laune als jetzt!«

Die junge Frau versuchte, den Alten zu beruhigen, aber der steigerte sich immer weiter in seine Rede hinein. »Sieh dir das doch mal an: Das sind doch nur noch Touristen hier. Und diese Preise. Nichts mehr unter 10 Euro. Und dann stellen sie dir ein Fläschchen Sojasoße auf den Tisch und wünschen dir Guten Appetit!«

»Jetzt warte doch erst mal ab. Vielleicht ist es ja wirklich ganz gut. Alle haben gesagt, es sei gut hier.«

Das Pärchen saß beim Kinnaree Thai am Südstern, etwas abseits wartete eine Kellnerin mit den Speisekarten auf den geeigneten Augenblick, um an den Tisch zu treten.

»Sieh dir doch mal die Deko an: Diese geschnitzten Karotten und diese Blumensträußchen aus Rettich und Paprika. Ich will das doch essen, da muss ich doch nicht vorher Kunstwerke draus machen.«

»Das Auge isst bekanntlich mit!« , sagte die junge Frau und setzte ein fast schon asiatisches Lächeln auf.

In diesem Moment trat eine Thailänderin an den Tisch und überreichte die Karte. »Zwei Bier bitte!« , brummte der Kreuzberger. Die schöne Thailänderin deutete eine zarte Verbeugung an und entfernte sich wieder. Der Kreuzberger glaubte, sie leise kichern zu hören.

»Und diese blödsinnigen Nummern hier, C4, F6, A9. Wie auf dem Flughafen. Wahrscheinlich sollen wir uns wie im Urlaub fühlen. Lauter billige Tricks, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen!«

»Das mit den Buchstaben verstehe ich nicht!« , sagte die Junge.

»Na das S steht für Suppen wie Tom Kha und so, das C für die Currys, und so weiter, ist doch klar.« , brummte der Alte.

Wenig später hatte er eine KS5 bestellt. Tintenfisch mit gelbem Curry. »Werden wahrscheinlich so ein paar tiefgefrorene Ringe mit ein bisschen Gemüse sein.«

Doch dann stand eine große, dampfende Platte vor ihm. Es roch nicht nach Soja und nicht nach Zitronengras, nicht nach Koriander, nicht nach Kokosnuss, es duftete nach all den dunklen, süßen, rätselhaften Verführungen des Urwaldes. Es duftete nach unbekannten Gewürzen und Pflanzen, nach echter thailändischer Küche. Der Kreuzberger kaute und wunderte sich und wurde stiller und stiller , und als er am Ende gefragt wurde, wie es geschmeckt habe, da nickte er so heftig, dass der Thailänderin ein winziges, leises Kichern entwich.

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg