Kreuzberger Chronik
Oktober 2015 - Ausgabe 173

Reportagen, Gespräche, Interviews

Kreuzberger Nächte sind kurz


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von Michael Unfried

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Der Wirt sieht aus, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Ich habe hier drei winzig kleine Tische auf der Straße, sechs Stühle, meine Gäste sind leise, und trotzdem beschweren sich die Nachbarn.« Der Besitzer des Feinkostladen-Cafés kommt aus Portugal, da sind die Nächte lang. Aber in seinem Alter ist er ohnehin kein großer Nachtschwärmer mehr, und es hat ihn nie gestört, dass es in der Heimstraße ruhiger zuging als in den portugiesischen Nächten. Im Gegenteil, er empfand Sympathie für die kleine Straße, in der jeder jeden kennt, in der es ein bisschen ist »wie auf dem Dorf.« Aber als das erste Mal Wasser von oben kam, sagte er: »Vielleicht gehe ich eines Tages wieder zurück nach Portugal.«

Gonçalo Bom würde es verstehen, wenn jemand sich wegen lauter Gäste oder lauter Musik beschweren würde. »Aber hier war es ein einziges Mal etwas lauter, und da feierte einer der Nachbarn seinen Geburtstag.« Doch solche Feiern sind die Ausnahme bei Bom, die meisten Gäste kommen zu ihm, »weil es ihnen in der Bergmann zu laut ist. Da stehen die Tische so dicht, dass man sich anschreien muss, wenn man reden möchte.«

Auch österreichische Nächte waren einmal länger Foto: Dieter Peters
Tatsächlich ist die Heimstraße im Vergleich zu den Lokalen am Marheinekeplatz mit zwanzig Tischen auf der Straße und klapperndem Geschirr eine Oase der Ruhe. Aber auch Nerhat, der Besitzer des kleinen Getränkeladens in der Heimstraße, hat Probleme mit den Nachbarn bekommen. Obwohl er keinen einzigen Tisch vor seinem Laden hat, kamen eines Abends zwei Beamte zu Besuch. Die Sache war ihnen peinlich, aber wenn »einer die Polizei ruft, dann müssen wir ausrücken.« Zwei ältere Herren aus dem Haus gegenüber fühlten sich in ihrer Dachgeschosswohnung - beinahe dreißig Meter Luftlinie vom Tatort entfernt - in ihrer wohlverdienten Ruhe gestört.

Der Anlass für den abendlichen Polizeieinsatz waren Jessi und Buddy, die sich jeden Abend vor Nerhats Kiosk treffen und sich jedes Mal aufs Neue lebhaft über dieses Zusammentreffen freuen. Während die Hunde schwanz-wedelnd auf der Straße umherschnüffeln und fremde Vierbeiner knurrend in Empfang nehmen, trinken die Herrchen ein Glas im Stehen, um dann gemeinsam eine Runde durch die Gemeinde zu drehen. Doch das allabendliche Stelldichein der Hundebesitzer war den alten Herren zu laut, die ohnehin der Meinung waren, dass »diese Leute vorm Heimgetränke ihre Rechnungen nur von den Steuergeldern begleichen können, die wir mal eingezahlt haben.« Also riefen sie nach der Polizei. »Das ist einfach eine Unsitte, so was!« , sagt der Besitzer von Jessi. »Der Typ, der bei Gonçalo Wasser vom Balkon kippt, hat doch sowieso Doppelfenster! Der würde es nicht mal hören, wenn ich hier Hendrix spiele.«

Dennoch müssen die Ordnungshüter ausrücken, wenn Beschwerden eingehen. Und es gehen jedes Jahr mehr Beschwerden ein, obwohl die langen Kreuzberger Nächte längst Legende sind. Eine umfassende Statistik über die vermehrten Anrufe verärgerter Bürger gibt es nicht, da die Beschwerden sowohl bei der Polizei als auch beim Ordnungsamt und beim Umweltamt eintreffen. Sogar im Briefkasten der Pressestelle landen Klagen, weshalb beim Ordnungsamt bereits Akten »für bestimmte Objekte« angelegt werden. Im Fall der Revaler Straße mit dem RAW-Gelände oder der Schlesischen Straße mit der Clubszene sind diese Akten schon ziemlich schwer geworden.

Im Ordnungsamt von Friedrichshain-Kreuzberg bemerkt man zwar, dass in bestimmten Straßen »die Beschwerden spürbar zugenommen haben« , doch von einem Verlust der Kreuzberger Toleranz und der mediterranen Gelassenheit möchte man im Amt lieber nicht sprechen. »In Szenevierteln wie dem Wrangelkiez oder dem Graefekiez ziehen ja auch viele junge Leute ein« , die ein äußerst entspanntes Verhältnis zur Lokalszene haben. Insgesamt, vermutet der Leiter des Ordnungsamtes, habe sich die Situation in Kreuzberg kaum verändert. Aus der Heimstraße kam in seinem Amt seit 2013 keine einzige Beschwerde an, aus der Friesenstraße lediglich eine, und selbst aus der Bergmannstraße sind in den vergangenen zwei Jahren lediglich 23 Beschwerden eingegangen.

Ein Jahr lang durfte man bis Mitternacht servieren Foto: Dieter Peters
Doch die Zahlen des Ordnungsamtes erwecken einen falschen Eindruck. Die 110 ist schneller gewählt als die 9029821..., die meisten Beschwerden gehen bei der Polizei ein. Die allerdings führt über ihre Einsätze offensichtlich keine Statistik. Wie oft sie bereits zum Chamissoplatz ausrücken musste, bleibt ihr Geheimnis. Sicher ist, dass es im Heidelberger Krug, der immerhin schon seit über 100 Jahren eine »Gastwirtschaft« ist, seit längerem immer wieder Ärger gibt, und dass die Polizei mehr als einmal da war, weil der Nachbar angerufen hatte. Allerdings handelt es sich bei diesem neuen Nachbarn nicht um einen zugewanderten Spießbürger mit nagelneuer Eigentumswohnung, sondern um einen spießigen Türken. Er mietete die Wohnung neben der Kneipe und begann umgehend damit, den Wirt zu terrorisieren. »Das wird auch bis in alle Ewigkeit so weitergehen« , sagt einer der Gäste. Obwohl Udo, der Wirt, viel Rücksicht nahm auf den neuen Nachbarn und seine Gäste sogar in lauen Sommernächten schon um zehn Uhr abends von den Freiluftplätzen ins verrauchte Kneipeninnere scheuchte. Geschäftsfördernd war diese Maßnahme nicht, Udo hat inzwischen aufgeben müssen. Zwei Frauen führen jetzt den Kampf gegen den Türken weiter.

Auch ein Anwalt aus der neuen Wohnanlage der Baywobau im Viktoriapark hatte nach dem Kauf einer Wohnung nichts Eiligeres zu tun, als bei der Wirtin eines Gartenlokals vorzusprechen und anzukündigen: »Ihren Biergarten werde ich bald dicht machen!« Und beinahe, verriet eine verärgerte Mitarbeiterin des Bezirksamtes, hätte er das auch geschafft. Als er mit den üblichen Beschwerden im Rathaus und bei der Polizei nicht weiter kam, die auf die Schallschutzfenster in seiner Wohnung hinwies, bestand er darauf, nächtens mit geöffnetem Fenster schlafen zu müssen.

Drei Jahre lang trafen sich die Kontrahenten zur Mediation im Kreuzberger Rathaus, das zwischen den beiden Parteien zu vermitteln versuchte. Ein Gutachten, das die Wirtin des Golgatha finanzierte, kam zu dem Schluss, dass nur eine 40 Meter lange und 8 Meter hohe Mauer rund um den Biergarten den Besitzer der Eigentumswohnung im Viktoriapark ruhigstellen könne. »Aber eine Mauer wollen diese Typen aus Hamburg oder Frankfurt dann offensichtlich doch nicht vor der Nase haben.«

Als die Vorsitzende im Rathaus verkündete, dass der Pachtvertrag von 1978 noch immer volle Gültigkeit besäße und der Biergarten bis fünf Uhr morgens geöffnet bleiben dürfe, sollen die Neukreuzberger »wutentbrannt den Saal verlassen« haben. Aber unter den Stammgästen des beliebten Ausflugslokals wird sich zugeflüstert, dass die Wirtin für 30.000 Euro Belüftungsschlitze ins Mauerwerk der Baywobau habe einbauen lassen, damit die Fenster nachts geschlossen werden können, »ohne dass in den Wohnungen der Erstickungstod droht.«

Das Golgatha und seine lauernde Nachbarschaft Foto: Dieter Peters
Seit vielen Jahren schon kämpft auch die Sirene Bar in der Friesenstraße gegen die Belästigungen durch die Lärmempfindlichen, und damit ums Überleben. Obwohl auch hier viel Geld zum Schutz der Nachbarschaft investiert wurde und nicht auf der Straße, sondern im schalldichten Inneren des Lokals getanzt wird, wurden die zarten Seelen der neuen Bewohner Kreuzbergs derart strapaziert, dass sich die Nachbarn aus der gegenüberliegenden Friesenwache vor Beschwerden nicht mehr retten konnten. Inzwischen haben die neuen Hausbesitzer den Betreibern der kleinen Bar gekündigt.

Und wieder ist die Stadt um ein originelles Lokale ärmer geworden. Die Sirene Bar mit ihren Ausstellungen, Konzerten und der Tischtennisplatte hatte es immerhin bis in die Tagesschau gebracht. Doch bis die Verantwortlichen in der Politik verstehen, dass Berlin durch die Belästigungen nervenkranker Neukreuzberger nicht nur einige Lokale, sondern sein Gesicht verliert, wird es zu spät sein. Dann werden die Touristenströme und der Haifischschwarm aus der Immobilienbranche längst weitergezogen sein und auch Neukölln, den Wedding und Moabit zerstört haben.

»Damals, nach dem Krieg« , sagt einer der letzten Gäste beim portugiesischen Feinkostladen in der Heimstraße, »waren die Häuser kaputt, aber in den Ruinen wurde getanzt, da haben Kinos und Kneipen aufgemacht, da war Leben. Heute sind die Häuser wieder ganz, aber da ist kein Leben mehr drin. Heute würde Ernst Reuter das nicht mehr sagen: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt.

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