Mai 2015 - Ausgabe 169
Die Geschäfte
Nüssels Fahrschule von Horst Unsold |
Nüssel gibt es schon ewig. Aber Nüssel hat sich kaum verändert. Das Schaufenster sieht noch immer so aus wie an jenem Tag, an dem der Fahrlehrer das Geschäft seines Chefs übernommen hat. Da ist immer noch diese kleine Stadt mit der Kirche und dem Hotel und dem Rathaus, und davor steht immer noch der VW Käfer, Baujahr 75, der BMW aus den 90er Jahren und dieser im Vergleich zu den anderen viel zu große Ferrari Testarossa, dessen maßstabgetreuer Fahrer bis zum zweiten Stock des Rathauses reichen würde, wenn er ausstiege. In der kleinen Schaufensterwelt ist die Zeit stehen geblieben, die Autos stehen alle noch so auf dem Sisalteppich wie vor 37 Jahren, als Herr Nüssel das Reststück von dem Teppichhändler im Hinterhof bekommen hat, der auch schon seit ewigen Zeiten dort hinten ist. Die Neonröhre neben der Tür beleuchtet eine Schrift, die in den 60ern auf allen Reklameschildern zu sehen war, in der aber auch heute noch eine schier unvergängliche, ewig aktuelle Nachricht formuliert ist. In roten Lettern steht da über der Liste der Angebote: Unsere neuen Preise. Nur die Ziffern, die sich darunter befinden, sind im Verlauf der Jahre mehrmals übermalt worden, und wo einst noch die alte D-Mark das Maß aller Dinge war, regiert heute der Euro. Auch die zweite, in rot verfasste Nachricht am unteren Ende der schmalen Preistafel ist noch aktuell. Dort steht: Unser Fahrzeug: Skoda Octavia. »Der Vorteil beim Skoda für den Fahrschüler ist, dass das Auto auch wirklich bei der Heckscheibe aufhört. Unser Skoda hat keinen Kofferraum!« Der Scoda ist Nüssels drittes Lehrfahrzeug mit zusätzlichen Pedalen auf der rechten Seite. Begonnen hatte er mit einem Ford, demselben, in dem seine Frau 1975 beim alten Naumann in der Gneisenau ihren Führerschein machte. Und in dem der Naumann irgendwann einmal ganz unvermittelt die Frau Nüssel fragte, ob denn ihr Mann eigentlich ewig Kisten schleppen wolle. Da arbeitete Nüssel nämlich noch als Tischler bei einer Getränkefirma. Naumann kannte Frau Nüssels Mann, denn auch er hatte bei ihm seinen Führerschein gemacht. 1962 war das. Und Naumann ahnte: Dieser Nüssel besaß die nötige Ruhe. Und weil Ruhe und Gelassenheit die wichtigste Voraussetzung zum Fahrlehrer ist, fing Nüssel bei Naumann als Fahrlehrer an. Drei Jahre später hieß die Fahrschule Naumann Fahrschule Nüssel. Nüssel ist ruhig geblieben, bis heute. Von den hoch getunten türkischen Nachwuchsfahrlehrern mit ihren BMWs hält er nicht viel. Ein Fahrschüler braucht einen ruhigen, erfahrenen Mann neben sich. Nüssel erhält noch heute Briefe von Schülern, die sich für seine Geduld und seine Ausgeglichenheit bedanken. Diese »Fahrschüler sind schon arme Würstchen heute« . Berlins Straßen sind gar nicht konzipiert für den vielen Verkehr. »Und diese Aggressivität und Hektik, die sich hier in den letzten Jahren breitgemacht hat, das macht es auch nicht gerade leichter! Daneben sitzen und Stadt ankieken, das is nich mehr!« Damals, zu Mauerzeiten, war das alles noch wunderbar. Da konnte man auch noch vier Wochen Urlaub machen, »weil im Sommer sowieso niemand mehr in der Stadt war.« Heute beschweren sie sich, wenn Nüssel samstags eine Pause einlegt. „Was, Sie fahren am Samstag nicht? – Nee, junger Mann, da muss ick meene Nerven wieder zusammenkriejen.« Samstags kommt Nüssel höchstens noch zum Aufräumen in die Gneisenaustraße, fährt mit dem Staubwedel über die Dächer der Häuser im Schaufenster und die Spielzeugautos, die sich im Lauf der letzten 37 Jahre angesammelt haben, weil alle Freunde und Bekannte dem Fahrlehrer zum Geburtstag natürlich ein Modellauto schenken müssen. Auch das Glas im Schaufenster putzt er regelmäßig, damit die Kinder etwas sehen können. »Ich hör immer, wie sie sich den Kopf an der Scheibe stoßen, wenn sie sich runterbücken, um die Autos besser sehen zu können.« Nüssel kichert. Nüssel kichert viel in seinen weißen Bart. Die Arbeit macht ihm noch reichlich Spaß. Er kann sich sogar über die Touristen freuen, die in Scharen jetzt schon durch die Gneisenaustraße laufen und vor der Fahrschule stehen bleiben, um das Modell im Fenster anzustaunen. »Wenn eener janz lange davor stehn bleibt, dann geh ick raus und frag, ob ichs mal anmachen soll.« Dann fließt Strom in das Funktionsmodell, die Kolben beginnen, auf und ab zu gehen, die Räder drehen sich, die Lichter gehen an, »und hier können Sie dann sogar Kuppeln und Schalten, an dem Modell ist alles dran, was so ein Auto früher mal hatte. Ich hab ja immer mal so ein Plexiglasgehäuse drum herum bauen wollen, aber ich habs einfach nicht geschafft in den letzten 36 Jahren! Wo die nur geblieben sind, diese ganzen Jahre….?« Aber jetzt sind sie rum, die Jahre in der Fahrschule. Er war lange genug hier. Im Dezember wird Nüssel seine Modellautos in Schuhkartons packen und mit nach Hause nehmen. Er wird keine neuen Preise mehr auf die Preistafel schreiben. Das Geschäft lohnt sich nicht mehr, seit die Mauer gefallen ist. Nüssel wird endlich in seinen verdienten Ruhestand gehen, und zu Weihnachten wird er sich »ne Monatskarte kaufen und einfach mal so durch Berlin fahren lassen und mir die Stadt ankieken - Wunderbar!« • Fotos: Dieter Peters |